M: Im Rotwein

Sophie blickte ungerührt auf den Fernseher. Marie hatte sich den Film ausgesucht. Es war so ein gezeichneter Familienfilm. Irgendein Märchen, in dem sich am Ende alle in die Arme fielen und glücklich bis an ihr Lebensende sein würden. Zuvor musste der Prinz im roten Umhang jedoch seine Geliebte retten. Er würde den riesigen Drachen mit den drei Feen bekämpfen und ihn bezwingen, um sein Traummädchen zu befreien.

Marie klammerte sich an Sophies Arm, als der Held sein Schwert ergriff.

„Ich habe Angst“, flüsterte sie ihr zu.

Automatisch schloss sie ihre Zwillingsschwester in die Arme. Sie drückte Marie leicht an sich. Doch konnte sie sich nicht ganz auf die andere konzentrieren. Ihre Ohren lauschten zu sehr in Richtung Küche.

Das Gespräch war interessanter als dieser langweilige Film.

„Könnten sie sich nicht geirrt haben?“

„Das war der dritte Arzt – es kann doch nicht sein, dass jeder etwas anderes behauptet!“, zischte ihre Mutter so giftig, dass Sophie zusammenzuckte.

Ihr Vater murmelte eine Entschuldigung. Ein Stuhl schabte über den Boden. Irgendetwas raschelte. Dann seufzte ihre Mom viel zu erschöpft.

„Magst du lieber wieder zu einem anderen?“, fragte ihr Dad vorsichtig.

„Um die vierte Meinung einzuholen?“, die Stimme überschlug sich fast.

Diesmal blieb ihr Vater ruhig. Wahrscheinlich war es ihm zu heikel, der Schwangeren zu widersprechen. Ihre Mutter war viel zu sprunghaft in den letzten Tagen gewesen. Ein frisch gewischter Flur reichte ja bereits aus, damit sie durch die Decke ging!

Marie zog abrupt Luft ein und so schaute Sophie wieder auf den Fernseher. Der Drache spie Feuer in den Himmel. Er baute sich vor dem Prinzen auf und schrie.

Doch konnte der Film ihre Aufmerksamkeit nicht halten.

„Ich werde nochmal zum ersten Arzt müssen. Nächste Woche. Die Mädchen würde ich drüben lassen. Ein letztes Mal, ehe Mrs. Kleid zu ihrem Hochzeitstag wegfährt. Kannst du sie nach der Arbeit bei ihr abholen?“, fragte ihre Mom so erschöpft, dass das Mädchen die Stimme erst nicht wiedererkannte.

Vor den Zwillingen gab sie sich meist als die Starke. Als die Unbezwingbare. Dennoch wusste Sophie, dass auch ihre Mutter manchmal eine Pause brauchte. Sie wusste es … und trotzdem …

So schlimm hatte sie sich noch nie angehört!

„Sicher? Nicht, dass ihr die beiden so kurz vor der Reise zu viel werden?“

Ihre Mutter seufzte wieder: „Ich weiß. Deswegen habe ich ihr eine Flasche Rotwein geholt. Als Dankeschön. Den liebt sie, weißt du?“

Ihr Dad stimmte murrend zu. Dann erklangen die Schritte. Die Stubentür öffnete sich.

Sophie starrte angespannt auf den Fernseher. Sie wollte nicht, dass man sie erwischte. Immerhin hätte sie von dem Gespräch eigentlich nichts mitbekommen sollen, oder? Genauso wie von den anderen, in denen ihre Mutter geweint hatte.

In letzter Zeit fühlte sich alles so angespannt an …

Zwei Tage später stellte ihre Mutter die Flasche Rotwein in den Flur, damit sie ihn auf dem Heimweg abholen konnten, ehe es zu der alten Mrs. Kleid ging.

Drei Tage später holte Sophie das Getränk ab, während Marie ungeduldig in der Haustür wartete. Wäre es nach ihrer Schwester gegangen, wären sie sofort rüber geeilt. Aber Sophie hatte ihrer Mom versprochen, die Flasche nicht zu vergessen. Sie beharrte darauf, es direkt zu erledigen. Sie wies ihren Zwilling an, nicht so zu rennen, als sie zu der alten Frau gingen. Sie war es auch, die erklärte, dass ihre Mutter der lieben Mrs. Kleid nicht zur Last fallen wollte.

Doch die Frau lachte nur gutmütig und stellte ihnen Kekse zu den Hausaufgaben hin. Kurz darauf erklang der kratzige Schallplattenspieler wieder. Die Platten kannte Sophie bereits auswendig. Es gab Musik und Geschichten zur Auswahl. Diesmal war es irgendein klassisches Stück …

„Können wir danach wieder den gestiefelten Kater hören?“, fragte Marie noch ehe sie sich hingesetzt hatte.

„Wenn du damit fertig bist“, entgegnete Mrs. Kleid, „Ansonsten können wir auch nochmal Orangen auspressen. Ehe sie mir nächste Woche vergammeln.“

Motiviert stürzten sich beide in ihre Hausaufgaben. Sophie freute sich bereits wahnsinnig auf den Saft! Von der alten Dame hatte sie bereits gelernt, wie sie einen Kuchen backen konnte. Und Plätzchen! Es machte ihr Spaß, in der Küche auszuhelfen oder die Naschereien am Ende zu probieren!

Sie war gerade mit der ersten Seite fertig, da krachte etwas nebenan zu Boden. Es klirrte. Knirschte?

Marie schaute erschrocken hoch. Sie brabbelte etwas von Drachen und Hexen. Ob sie noch an den Märchenfilm dachte?

Sophie blieb lieber auf dem Boden der Tatsachen.

Sie lauschte in das alte Haus. Sie lauschte der Schallplatte. Sie lauschte den tickenden Uhren. Den Schritten …

Schritte? Aber warum hatte sich die alte Frau nach dem Krach nicht gemeldet?

„Alles in Ordnung? Mrs. Kleid?!“, rief Marie aus.

Stille.

Sonst antwortete die alte Dame immer!

„Ich schau nach“, Sophie stand lächelnd auf, ehe ihre Zwillingsschwester widersprechen konnte und schob sich aus der Tür. Sie hörte ein Knarren. Es klang, als wäre die Tür zur Garage gerade geschlossen worden? Nein. Das war zu albern! Das hatte sie sich nur eingebildet, oder?

Als sie gerade an der Küchentür ankam, klopfte es an der Haustür. Ihr Vater meldete sich. Sie erkannte die Stimme sofort. Aber zum ersten Mal konnte sie den Worten nicht folgen.

Nicht, während die alte Mrs. Kleid so reglos auf dem Küchenboden lag – neben ihr die zerbrochene Rotweinflasche, die Sophie wie eine Blutlache vorkam.

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