Märchenstunde: Miras zweites Leben I

Man hatte Mira in den Wald gejagt. An dem Tag, an dem ihr kleiner Bruder seinen ersten Namenstag feierte, hatte ihr Vater sie ausgestoßen. Sie wäre nun nichts mehr wert. Ihr Bruder hätte das erste Jahr ja gemeistert. Er konnte bereits laufen. Die ersten Worte sprechen. Er war vielversprechend!

Vielversprechender als sie. Sie war ja nur ein Mund zu viel, den ihre Eltern stopfen mussten.

Mira hatte nichts mitnehmen dürfen. Einzig der Lumpen namens Kleidung war ihr geblieben. Aber der war eh mehr Deko als Kälteschutz. Die richtige Kleidung, das Essen, ihre Eltern gehörten ihrem Bruder.

Dem besseren Kind.

Schluchzend stolperte sie über eine Wurzel und taumelte ins Unterholz. Die Gräser hier waren noch feucht vom Tau. Feucht und kalt. Doch Mira spürte die Kälte nicht. Sie war das Zittern gewohnt. Sie war die Einsamkeit in ihrem Herzen gewohnt. Dieses Gefühl, nicht erwünscht zu sein …

„Wäre ich nur ein Junge“, flüsterte sie und wandte sich vom Pfad ab.

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Märchenstunde: Die drei Wünsche

Es war einmal ein Mann, der täglich über einen Bergkamm kletterte, um seine Waren in die Stadt zu befördern. Dafür musste er jeden Tag dieselben Strapazen erleiden. Immerzu quälte er sich den mühsamen Weg hinauf. Und immerzu stieg er ihn auf der anderen Seite wieder herab. Das war die Aufgabe, die er von seinem Vater übernommen hatte – genauso wie dieser zuvor. Nur war er des Weges müde geworden. Schon lange konnte er die Wanderschaft nicht mehr frohen Herzens genießen und wünschte sich sehnlichst seinen Ruhestand herbei.

Nur besaß er weder Frau noch Kind.

So kam es, dass er sein Händlerlächeln überall aufsetzte. Wie sonst hätte er noch seine Waren verkaufen oder sich gar über den beschwerlichen Weg kämpfen sollen? Er wurde ja nicht jünger!

Viel eher wurde er so alt, dass er es eines Tages nicht mehr rechtzeitig ins Tal schaffte. Zum ersten Mal musste er in der Einsamkeit des Gebirges übernachten.

Da erklang eine schiefe Stimme.

„Ist dir das Klettern nicht überdrüssig geworden?“

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Märchenstunde: Die Geburt der Meernixen

Es war einmal vor langer, langer Zeit, da lebte ein König auf seiner Insel. Dieser König hatte sieben Söhne, aber nur eine Tochter, welche jede Krankheit magisch anzog. Stets wurde sie von Husten oder Fieber geplagt, sodass sich der König immerzu um sie sorgte. Und so kam es, dass er seine Söhne vernachlässigte, die sich bald darauf alle als alleinige Erben sahen.

Jeder wollte nach dem Tod ihres Vaters das Reich regieren. Denn jeder sah sich selbst als perfekten Nachfolger an. So war der erste sehr geschickt in der Buchführung, der zweite hatte die Kunst der Diplomatie mit dem Festland erlernt, der dritte war in der Schiffsfahrt und der Meereskunde bewandert, der vierte wusste jede Nahrung herzustellen oder gar anzubauen, der fünfte war ein Gelehrter des Tempels, der mit Auszeichnungen überhäuft wurde, der sechste wusste jedes Tier zu besänftigen und für seine Zwecke zu gewinnen, der siebte lenkte die Stimme des Volkes mit seinem Gesang.

Wie konnten die Gaben der anderen Brüder wichtiger als die eigene sein? Geschweige denn für eine kränkliche Schwester ignoriert werden?

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