B: Reingelegt? I

„Bis nachher“, flüsterte Oliver ihr zu und drückte Liane kurz an sich.

„Treffen wir uns wieder vor der Bibliothek?“

„Hm, ich dachte-“

„Dass ihr Turteltäubchen schon spät dran seid“, unterbrach Shiloh mit wedelnden Händen, „Na los. Das ist nicht deine Klasse.“

„Jawohl“, lachend eilte Oliver den Gang runter. Liane beobachtete ihn noch einen Moment, ehe sie sich ihrer Freundin zuwandte. Nur war diese bereits auf dem Weg zu ihrem Tisch.

„Sind wir so schlimm?“, erkundigte sie sich zaghaft.

Die Frage musste einfach raus. Sie selbst konnte es nicht einschätzen. Das hier war ihre erste Beziehung, verflixt nochmal! Ging es zu schnell? Zu langsam? War es zu intensiv? Zu flach? Sobald Oliver nicht mehr bei ihr war, schlichen sich die Selbstzweifel an-

-und verschmolzen den Talisman mit ihrer Hand.

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M: Unterrichtsplanung mal anders

„Guten Abend, Mrs. Strom. Sie wollten mich sprechen?“, grüßte der Klassenlehrer ihrer Zwillinge und streckte ihr die Hand entgegen.

Er war groß, mit Speckfalten am Bauch und einem lichten Kopf versehen. Bestimmt würde er auch die letzten Haare nicht mehr lange behalten. Ob er deswegen immer diese abscheulichen Wollpullover trug? Sie waren immerhin genauso fusselig wie fünf normale Köpfe.

„Ja“, Jane machte es sich unaufgefordert auf dem Sofa im Lehrerzimmer bequem, „Es geht um Ihr Kurrikulum.“

Mr. Flemming ließ seinen Arm sinken: „Wie bitte?“

„Ihr Kurrikulum. Der Lehrplan. Was Sie mit den Kindern durchnehmen, Himmel hoch drei“, sie legte den besagten Plan auf den Tisch, „Das hier.“

Der Lehrer warf nur einen flüchtigen Blick auf das Deckblatt des riesigen Buches. Gewiss hatte er das dicke Teil im Studium lesen müssen. Es war immerhin der Plan für ganz Suderien. Darin war der Unterricht aller Kinder geregelt: Von Einschulung bis Abschluss. Jedoch war es sehr wirr geschrieben, da es unendlich viele Kreuzverweise gab. Außerdem wurden die einzelnen Themen nirgends erläutert. Es gab nur Kerndefinitionen, Lernziele und Kompetenzen.

Die Umsetzung sollten sich die Lehrkräfte selbst aus dem Hut zaubern.

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K: Verborgene Augen

Mit geschlossenen Augen saß Borei unter der Treppe und lauschte den hastigen Schritten. Die Waisen waren alle so unbedacht, so sorglos geworden. Erst hatte er es befremdlich gefunden. Doch nun? Mittlerweile hatte er ihre Naivität zu schätzen gelernt. Sie beruhigte ihn.

„Du sagst, sie kommt nächste Woche wieder. Fieber“, hörte er die Betreuerin den Nachzügler belehren.

„Ist gut. Aber du richtest ihr eine gute Besserung von mir aus, ja?“

„Ja, doch“, sie klang genervt, „Na los! Du kommst sonst wieder zu spät, Nik!“

Damit hetzten die letzten Schritte an seinem Versteck vorbei.

„Sie ist aber sonst nicht krank …“

Wäre Borei ein Mensch gewesen, hätte er Niklas‘ kindliches Meckern nicht vernommen. So konnte er sich jedoch über die kindliche Stimme amüsieren. Er selbst kannte den Waisen, seitdem dieser vor ihrer Tür abgelegt worden war. Damals hatte er geholfen, die Windeln zu wechseln, ihn zum Laufen zu animieren und so unendlich viele Karotten püriert, bis ihm davon schlecht war. Er wusste, dass der Junge stets erwachsen sein wollte. Er wusste, warum er wie verrückt lernte.

Und er wusste, dass er diesen kindlichen Tonfall nicht mehr oft hören würde.

„Bist du da, Borei?“, fragte eine andere Stimme in den Flur.

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B: Zwischen Traum und Erinnerung

„Du und Oli?“, hinterfragte ihr Vater zum vierten Mal.

Mittlerweile nickte Liane nur noch still, während sie sich ein Stück Gurke in den Mund steckte. Es war sinnlos, die Wahrheit zu leugnen. Immerhin hatte ihr Vater gesehen, wie Oliver sie nach Hause gebracht hatte. Ungeduldig hatte er auf sie gewartet. Er hatte sie erwartet gehabt. Sie. Nicht ihre Begleitung. Nicht den Kuss.

Dabei hatte letzteres sie ebenso überrumpelt.

„Hatte er dir …?“, unschlüssig wedelte ihr Vater mit den Armen umher und warf dabei fast seinen Teller vom Tisch. Er hatte sein Abendessen noch nicht angerührt. Stattdessen kämpfte er mit jedem zweiten Satz.

Angespannt hielt sie diesmal inne: „Was meinst du?“

„Deine Freundin. Die neulich hier war. Shiwo? Shino?“

„Shiloh“, korrigierte das Mädchen vorsichtig.

„Genau! Sie sprach von Liebeskummer und-“

„Nein“, abrupt stand Liane auf, „Lass es. Das ist … Das ist meine Sache, in Ordnung? Ich mache das allein.“

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M: Die Entscheidung

„Wir können nicht länger in Centy bleiben“, begrüßte Jane den Vater ihrer Kinder, sobald er durch die Tür kam.

Blinzelnd starrte er sie an. Er wirkte überfordert – aber das war nichts Neues für sie. Danni kam ihr öfters etwas verpeilt vor. Lisa hatte ihn sogar als langsam beschrieben. Zurück in Merichaven hätte es sie genervt, alles fünfmal zu erklären. Es war ineffizient. Zeitaufwendig! Doch seitdem sie dem Ort den Rücken gekehrt hatte, wusste Jane:

Sie brauchte diesen Ruhepol. Er war der Grund, warum sie ihre hastigen Entscheidungen immer noch einmal überdenken musste. Wegen ihm konnte sie nicht einfach aufspringen und losrennen, wenn die Unruhe sie heimsuchte. Sie konnte ihn nicht zurücklassen.

Danni war vielleicht ein Dussel, doch er war ihr Dussel!

„Dieser Ort ist nicht richtig. Er ist … wie ein Spiegelbild?“, versuchte sie, seinem schief gelegten Kopf zu erklären.

„Ein Spiegelbild?“, nachdenklich marschierte er zum Fenster.

Jane seufzte. Sie stand auf, durchquerte den Flur, schloss die Wohnungstür, schaute kurz ins Kinderzimmer und eilte dann ihrem Freund hinterher. Es war ihre eigene Schuld. Wieso musste sie ihn auch so überfallen? Der Mann würde seinen Kopf verlieren, wenn er nicht festgewachsen wäre!

„Ja“, bestätigte sie mit erzwungener Ruhe, „Spiegelbild.“

Er brummte. Nickte. Wandte sich ihr zu.

„Soll ich die Fenster dann lieber nicht mehr putzen?“

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