Märchenstunde: Miras zweites Leben II

Mira erwachte zu einem leisen Knacken. Müde rieb sie sich die Augen und starrte auf die Eier neben ihr. Es waren zwölf Stück. Alle mit kleinen braunen und schwarzen Flecken überhäuft. Alle so groß wie ihr Kopf und-

Dazwischen lagen riesige schwarze Federn.

Auf einen Schlag war sie wach und schaute sich nach dem großen Vogel um. Dieser hatte sie mit so einem komischen Flausch zugedeckt. Er war weich. Und warm. Deswegen hatte sie sich so geborgen gefühlt.

Geborgener als je zuvor.

„Wieder von Sinnen?“, fragte das große Wesen, das neben dem Nest auf dem Vorsprung kauerte.

Zögerlich nickte Mira. Sie versuchte, sich aus der Wärme zu befreien. Sie hatte nichts in diesem Nest zu suchen. Sie war kein Vögelchen …

Sie war nur ein verstoßener Mensch.

„Lass es, sonst stößt du noch gegen meine Eier“, befahl das schwarze Geschöpf scharf und sofort erstarrte sie.

„Ent- Verzeihung“, brachte sie stockend über die Lippen.

„Schon gut. Sag mir nun lieber, warum die anderen Nacktaffen dich allein durch den Wald ziehen lassen“, forderte das riesige Federtier.

Mira stockte. Obwohl diese gelben Augen nicht auf sie gerichtet waren, so schien dieses Wesen sie dennoch zu beobachten. Warum? So interessant war sie ja nicht, oder? Sonst hätten ihre Eltern sie nicht fortgejagt …

Still sprudelten die Worte aus ihr heraus. Sie erzählte von dem knappen Essen, von ihrem Bruder und wie man im Dorf stets die Jungen bevorzugte. Mädchen waren austauschbar. Mädchen galten als unwichtig. Wenn das erste Kind ein Mädchen war und danach ein Junge folgte, wurde die Erstgeborene meist verstoßen. So war der Lauf der Dinge. So würde es stets sein …

Denn all die vergangenen Miras konnten aus dem Grab nichts mehr bewirken.

Als sie geendet hatte, waren ihre Wangen nass und sie musste zwischen ihren Worten immer wieder stocken. Dennoch hielt sie durch. Sie musste. Sie war zu oft geschlagen worden, wenn sie den Mund nicht aufbekommen hatte …

„Dann warst du nicht die erste?“, fragte der Vogel nach einer ganzen Weile und riss den Kopf hoch.

Ein Ast schwebte vor sie. Er trug drei Früchte an seinem Stängel. Pralle, rote Früchte, die sie sonst nur aus der Ferne erblickt hatte.

Zögerlich streckte Mira die Hand aus und gehorsam plumpsten die Äpfel hinein. Sie bestastete die glatte Schale. Sie fühlte sich so frisch an! Nicht so verrunzelt, wie bei den Früchten vom Markt.

„Iss ruhig“, forderte das große Wesen, als hätte es seine vorherige Frage bereits vergessen. Doch die gelben Augen schienen an etwas anderes zu denken. Sie wirkten zu ernst …

Erst als Mira ihren zweiten Apfel vertilgt hatte, stand der Vogel auf und schüttelte sich. Seine Krallen kratzten über den Vorsprung, als er herüber trat. Dabei wirkte es auf das Kind nicht bedrohlich. Eher … wie eine Melodie?

„Ich muss weg. Wenn du möchtest, so geh und ich werde behaupten, dich nie getroffen zu haben. Wenn du allerdings hier bleibst, so werde ich dich als eines meiner Küken zählen. Du wirst nicht so wie meine anderen Küken werden. Du wirst immer ein Nacktaffe bleiben, aber ich werde dich lehren, mit der Welt statt von der Welt zu leben“, schwarze Flügel verdeckten den Himmel, „Du entscheidest, was dir lieber ist.“

Als sich der Vogel abstieß, wehte eine gewaltige Böe über den Vorsprung. Mira riss verängstigt die Arme vor ihr Gesicht. Sie zitterte. Aber nicht vor Kälte. Etwas anderes hatte ihr Herz umklammert.

Schaudernd betrachtete Mira die Eier. Sie kämpfte sich vorsichtig aus dem Nest – den letzten Apfel immer noch festhaltend. Sie musste endlich gehen. Das wäre das einzig richtige. Sie musste hier weg. Sie konnte diesem Vogel nicht zur Last fallen. Sie-

Sie-

Wollte sie das wirklich?

Kaum dass sie sich befreit hatte, hielt sie erneut inne. Sie dachte an die gelben Augen zurück. An das Angebot, dass für einen Moment so herzlich, so einladend gewirkt hatte. Doch müsste sie es ausschlagen, oder? Sie war einer dieser … dieser Nacktaffen. Kein Vogel. Und erst recht kein so großer!

Dabei wollte sie am liebsten einer sein …

Mehrere Stunden harrte Mira neben dem Nest aus. Sie starrte auf den Wald unter ihren Füßen. Auf die riesigen Bäume, den Fluss, das Meer in der Ferne … Es war so wunderschön von hier.

Es war friedlich.

Als der Vogel zurückkehrte, erwartete sie ihn bereits. Ihre Augen blieben nur kurz an den nassen Krallen hängen, ehe sie ihn anlächeln konnte.

„Wie darf ich dich nennen?“, fragte sie leise.

Ein Flügel zog sie näher heran. Er roch komisch. Irgendwie süß. Aber auch bitter. Ehe sich Mira einen Reim daraus machen konnte, spürte sie Wärme aus dem gewaltigen Körper strömen.

Wärme, die sie selbst außerhalb des Nestes brauchte.

„Mein Name ist Nyx. Aber du darfst mich auch Mutter nennen, ja?“

Erleichtert nickte Mira in die dunklen Federn.

„Und du jagst mich auch sicher nicht fort, wenn deine Eier geschlüpft sind?“, erkundigte sie sich.

„Niemand jagt dich fort, Mira. Hier bist du in Sicherheit.“

Erst Jahre später bemerkte das Mädchen, dass es sich nie vorgestellt hatte. Und erst zwei Jahrzehnte später, als Nyx sie zur ersten Hexe ausgebildet hatte, besuchte sie das Dorf, in dem sie zur Welt gekommen war.

Ein Dorf, dass nur noch als Ruine die Welt verzierte.

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