M: Im Auge des Schützen I

„Sie schläft endlich“, seufzte Jennifer und ließ sich aufs Sofa fallen.

„Du pamperst sie zu sehr“, behauptete Jennifers Mutter sofort, „Ann ist alt genug, auch allein einzuschlafen.“

Die junge Mutter nickte nur stumm. Etwas anderes blieb ihr nicht übrig. Sonst würden ihre Eltern von der Affäre ihres Mannes erfahren. Und dann könnte sie sich auch gleich vor die Tür setzen!

Denn in einer gesunden Ehe dürfte es keine Affären geben.

„In ein paar Tagen sollte der Nachbar mit seinen Umbauten durch sein. Dann können wir wieder zurück, ohne jeden Morgen um fünf geweckt zu werden“, behauptete sie leise, „Zum Glück ist Marius eh unterwegs. Geschäftsreise. Wenn wir euch aber stören, kann ich gerne Miete für mein altes Kinderzimmer zah-“

„Papperlapap!“, unterbrach Jennifers Vater wie immer gutmütig, wenn sie Geld anbot, „Wir freuen uns, dass ihr hier seid. Ihr kommt so selten her! Was meinst du? Wollen wir morgen etwas unternehmen? Vielleicht ins Aquarium?“

„Etwas unternehmen? Ich bin morgen verabredet! Und Jennifer hat uns immer noch nicht erklärt, warum Ann zum Abendessen geweint hat! Also? Jennifer!“, warf ihre Mutter dazwischen.

Jennifer zuckte zusammen. Ihre Hände verkrampften sich. Erneut musste sie an ihre Tochter denken. Ann hatte sich so verzweifelt an sie geklammert. Immer wieder hatte sie nach ihrem Papa gefragt.

Und sie hatte einfach nichts sagen können.

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Einst

Einst war alles anders.
Einst war alles besser.
Einst …
Einst.
Einst?

Sie alle blicken so fröhlich zurück.
Sie alle schweben im Glück.
Sie alle verschließen ihre Augen –
Vor dem Unglück.

Stattdessen wird freudig erzählt.
Glückliche Worte werden gewählt.
Einzig die Nostalgie zählt?

Der Schatten der Vergangenheit
Steht im Flur bereit.
Er verlor seinen Glauben.
Er beschenkt nun mit Neid …

Einst war alles leichter.
Einst war alles freier.
Einst …
Einst.
Einst?

Mutter schwärmt von warmen Tagen.
Vater will sich daran laben.
Und dazwischen …
Sieht denn keiner die Narben?

Diese zerbrochene Seele …
Ein jeder wähle,
Was er ihr befehle!

Kälte streicht am Kinde herab,
Sie zwängt es ins dunkle Grab.
Weg vom toxischen
Verrat.

Einst sollten Eltern schützen.
Einst sollten sie behüten.
Einst …
Einst.
Einst?

Tun sie’s nicht immer noch?
Sie lieben ihr Kinde doch!
Sie würden ihm nix rauben!
Und dennoch …

Dennoch sitzet es zerbrochen dort
Und egal, wie tief man bohrt,
Gibt es keine Antwort.

Der Schatten der Vergangenheit
Hat genug vom Leid.
Er kann nicht länger mitanschauen,
Wie das Kind im Inner‘n schreit.

Einst wurde es geschlagen.
Einst wurde es getreten.
Einst …
Einst.
Einst?

Einst hält doch bis heute an!
Deswegen lässt es kein Glück heran!
Es glaubt, es würde zu nix taugen.
Deswegen ist es dran …

Dran zu schrei’n,
Dran zu wein’n
Ganz geheim
Ganz allein
In seiner Pein
Daheim …

Der Schatten der Vergangenheit
Verscheucht die Besonnenheit
Mit verächtlichem Schnauben.

Es ist an der Zeit.

Es ist an der Zeit, zu graben.
Es ist an der Zeit, etwas zu sagen.
Es ist an der Zeit, Hilfe einzuklagen!

Sanft besäuselt er das Kind,
Damit er es für sich gewinnt.
Er gibt ihm Wind,
Damit es beginnt

Zu sprechen.

Es soll sich rächen!

Das Kind beugt sich weg.
Es erkennt keinen Zweck.
Es hat kein Vertrauen.
Es sieht sich als Dreck.

Es ist an der Zeit, umzulenken.
Es ist an der Zeit, umzudenken.
Es ist an der Zeit, Bedenken

Zu ertränken!

Das Kind beginnt zu verstehen.
So kann es keine Zukunft sehen.
Mit Bedauern
Will es einige Schritte gehen.

Doch halten Wurzeln es fest!
Es darf nicht aufstehen vom Nest!
Dieses Nest, das es nicht ziehen lässt!

Mutter hält inne.
Vater erhebt die Stimme:

„Es darf nicht stehen.
Es darf nicht flehen.
Es darf niemals gehen.
Wie kommt es auf diese dummen Ideen?!

Das Kind hat fügig zu bleiben!
Es hat zu verweilen!
Wo soll es sich schon rumtreiben?
Warum will es heilen?

Heilen! Ha! Wovon?
Dass es sich mal wieder besonn!

Hier ist wie einst:
Alles gut.
Alles leicht.
Alles frei.“

Der Schatten der Vergangenheit
Macht sich wütend bereit.
Er kann seinen Ohren nicht trauen.
Frei nennt sich dieses Kleid?!

Das ist ihm zu dreist!
Er knurrt und er reißt!
Denn er verheißt:

Den Abschied.

Das Kind senkt die Lider.
Es zittern die Glieder.
Es sieht nicht auf-

„LAUF!“,

Schreit
Der Schatten der Vergangenheit.

Erschrocken hebt es den Blick.
Noch hält es ihn für einen Trick.
Es muss doch auf-

„LAUF!“,

Erneut schreit
Der Schatten der Vergangenheit.

Das Kind erblickt sein eigenes Gesicht.
Ein Schatten im Licht.
Nein. Sein Schatten im Licht.
Die Tränen sieht es nicht-

Nicht mehr.

„Hier ist’s nicht fair.
Hier fällt’s uns schwer.
Ich wünsche mir so sehr
Einen Abschied her.

Für dich.
Für mich.
Bitte sprich!“

Der Schatten der Vergangenheit
Erinnert an das einstige Leid.

Einst …
Einst.
Einst?

Die Wurzeln hängen schlapp,
Sie lassen endlich ab,
Sie fallen herab.

Einst war gestern.
Einst ist heute.

Vater und Mutter sprechen,
Sie wollen ihre Zechen,
Sie wollen das Kinde brechen …

Aber diese Leute,
Nein, diese Meute,
Bekommt keine Beute!

Mit der Erkenntnis sprießen Flügel empor.
Mit der Erkenntnis, die ihm fehlte zuvor.
Mit der Erkenntnis trat das Kind hervor.
Nein. Kein Kinde mehr.
Denn es setzte sich zur Wehr.

„Hatte die Ehre,
Eine furchtbare Leere“,

Damit verlässt es
Das furchtbare Nest.

M: Prolog – Flucht I

Er rannte. Hechelnd versuchte er, mit seinem großen Bruder Schritt zu halten. Oder wurde er eher hinterhergezerrt? Er wusste nicht mehr, ob er aus eigener Kraft lief oder gezogen wurde. Ob das Adrenalin in seinem Körper echt war oder er schon zu den Toten gehörte und es nur noch nicht wusste …

Erneut konnte er sie hören. Die Schüsse am Ende des Flurs, die fluchenden Rufe, die erschrockenen Schreie, die wütenden Stimmen, vor denen sie flüchteten …

Und dann roch er es. Der beißende Gestank des Rauches, der an verbranntes Fleisch erinnerte. Geschmolzenes Plastik. Bittere Chemikalien … Es war der Geruch des Todes. Er versuchte, dem Jungen Tränen in die Augen zu treiben. Ihn innehalten zu lassen. Aber er wehrte sich.

Er würde sich immer wehren.

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Mehr mag zu zählen …

Kleine, authentische Taten –
Ihre Folgen
Lassen nicht lang auf sich warten.

Unbedachte, harsche Worte –
Nun erfolgen
Ihre unseligen Morde.

Denn obwohl Vergebung sie wog,
Sie wagte zu bedenken,
Den Missmut zu senken.
So griff die Spirale zu und zog!
Die Liebe in den ewigen Sog.

„Man erntet, was man sähet“
Wart einst gelehrt,
Hoch verehrt,
Aber nun nähet,
Einzig die Gefühle gemähet.

„Wie du rufst, so hallt das Echo“
Doch muss ich es wagen,
Es wahrhaftig hinterfragen,
Wo es herkommt, wo?
Nicht aus des Himmels Hoh‘?

So mag ich harsch sprechen,
Doch halt ich nichts
Von diesem Witz,
Den leeren Versprechen.

 Mehr mag zu zählen,
Als ein Kind zu gebären.

Mehr mag zu zählen,
Als ein Kind zu ernähren.

Mehr mag zu zählen,
Als ein Kind zu befehlen.

So mag man es wählen.
Es auswählen,
Ihm erzählen,
Es empfehlen.

Liebe vermag zu walten.
Das Glück in den Händen zu halten.
Und Vertrauen schafft das Band,
Gefertigt aus weichem Samt,
Das selbst im Tod verbindet
Und ewig aneinanderbindet.

Mochte es nicht zu haften,
Zerrissen durch Boshaften?
So sind die Namen die Farce,
Der Wunsch eines Narrs!
Und Offenbarung dessen
An Vergangenem bemessen.

Das Leben gibt zurück,
Womit man es selbst beglückt.

Das Karma bringt den Spiegel,
Mit des Zukunftssiegel.

Die Ernte wandelt sich nicht gewollt,
Von Staub in glänzendes Gold!