M: Im Auge des Schützen I

„Sie schläft endlich“, seufzte Jennifer und ließ sich aufs Sofa fallen.

„Du pamperst sie zu sehr“, behauptete Jennifers Mutter sofort, „Ann ist alt genug, auch allein einzuschlafen.“

Die junge Mutter nickte nur stumm. Etwas anderes blieb ihr nicht übrig. Sonst würden ihre Eltern von der Affäre ihres Mannes erfahren. Und dann könnte sie sich auch gleich vor die Tür setzen!

Denn in einer gesunden Ehe dürfte es keine Affären geben.

„In ein paar Tagen sollte der Nachbar mit seinen Umbauten durch sein. Dann können wir wieder zurück, ohne jeden Morgen um fünf geweckt zu werden“, behauptete sie leise, „Zum Glück ist Marius eh unterwegs. Geschäftsreise. Wenn wir euch aber stören, kann ich gerne Miete für mein altes Kinderzimmer zah-“

„Papperlapap!“, unterbrach Jennifers Vater wie immer gutmütig, wenn sie Geld anbot, „Wir freuen uns, dass ihr hier seid. Ihr kommt so selten her! Was meinst du? Wollen wir morgen etwas unternehmen? Vielleicht ins Aquarium?“

„Etwas unternehmen? Ich bin morgen verabredet! Und Jennifer hat uns immer noch nicht erklärt, warum Ann zum Abendessen geweint hat! Also? Jennifer!“, warf ihre Mutter dazwischen.

Jennifer zuckte zusammen. Ihre Hände verkrampften sich. Erneut musste sie an ihre Tochter denken. Ann hatte sich so verzweifelt an sie geklammert. Immer wieder hatte sie nach ihrem Papa gefragt.

Und sie hatte einfach nichts sagen können.

„Sie ist es nicht gewohnt, dass Marius direkt nacheinander auf zwei Geschäftsreisen geht“, log sie erschöpft, „Sie-“

„Ach ja? Danach hat es aber nicht ausgesehen!“, mit verschränkten Armen baute sich ihre Mutter vor Jennifer auf, „Ich habe gehört, wie sie drüben noch einmal geweint hat! Hast du sie unter Druck gesetzt? Warum? Hast du mit ihr geschimpft? Hast du sie geschlagen?!“

Geschlagen?

Zornig sprang Jennifer auf: „Was. Soll. Das. Heißen?!“

„Ich frage ja nur, weil-“

„Weil du das gemacht hättest?!“, fuhr sie die Ältere an.

Wie konnte sie es nur wagen … Jennifer würde Ann niemals schlagen! Ja, ihre Tochter vergötterte Marius und wenn es zu einer Scheidung käme … Sie war sich sicher, dass Ann unbedingt bei ihrem Vater bleiben wollen würde. Aber das änderte nichts an der Liebe, die sie für ihr eigenes Kind empfand!

„Jen, mein kleiner Funken, bitte nimm deiner Mutter diese Worte nicht übel. Sie ist nur besorgt“, erklärte er, ohne gar aufzusehen.

 Das war zu viel für sie.

„Ich brauche frische Luft“, erklärte sie und donnerte aus dem Haus.

Wie hatte ihre Mutter es nur wagen können? War sie denn noch bei Sinnen?! Ja, Jennifer hatte ihren Eltern nicht die ganze Wahrheit erzählt. Es war nur verständlich, dass sie nachfragten. Vor allem, weil Ann sonst eine solche Frohnatur war! Nur …

Sie rieb sich die nackten Arme und stolperte über ihre eigenen Füße.

Marius hatte einen Kussabdruck auf seinem Hemdkragen gehabt.

Immer wieder musste Jennifer an diesen roten Fleck denken. Erst hatte er auf sie wie ein schlechter Scherz gewirkt. Dann war die Unruhe gekommen.

Zuletzt hatte sie Marius gefragt.

Es war ein Fehler gewesen.

Am Ende hatten sie geschrien. Er hatte die Tür geknallt und war zur Arbeit gefahren. Jennifer hatte ihre heulende Tochter in der Schule entschuldigt und war mit ihr in den Zoo gefahren, um den Kopf frei zu bekommen.

Am Nachmittag hatten sich die ersten Freunde und Nachbarn bei ihr gemeldet. Wo sie denn wäre? Marius suche nach ihr. Sie solle sich melden.

Automatisch war sie zu der einzigen Person gefahren, die sie auf den Tod nicht ausstehen konnte. Ihrer eigenen Mutter.

„Es ist besser so“, flüsterte sie und ließ sich auf die Bank einer Bushaltestelle fallen, „Es ist besser … so …“

Jennifer konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten. Sie fühlte sich zu verraten. Zu erschöpft. Gestern war die Welt noch in Ordnung gewesen. Wieso hatte sich nun alles so verdreht?! War sie wirklich zu eifersüchtig? Nein. Marius hatte sich doch eine andere Frau angelacht. Ja! Es war nicht ihre Schuld. Es war nicht ihre Schuld. Es war nicht-

Jennifer trat eine herumstehende Dose auf die Straße.

Ihr Vater, Marius und all die Ehemänner ihrer Freundinnen kamen aus der Schmuckbranche in Centy. Unter ihnen war es üblich, dass nur die Männer arbeiteten. Die Frauen sollten gut aussehen. Sich benehmen. Immer lächeln und jedes Missgeschick ihrer Angetrauten verzeihen.

Jeder würde sie für den Seitensprung ihres Mannes verantwortlich machen.

Schweigend stellte sich ein Mann neben sie. Er trug einen großen Koffer mit sich, der sich in Jennifers Blickfeld drängte.

Erschrocken wischte sie ihre Tränen fort.

Sie wollte nur ihre Ruhe haben! Warum musste jetzt jemand hierherkommen? Der Bus fuhr doch erst wieder in den frühen Morgenstunden! Derzeit …

Ja … Hier am Stadtrand käme der nächste Bus erst gegen fünf. Worauf wartete der Fremde also?

Als hätte er ihre Unsicherheit bemerkt, wandte er den Kopf in ihre Richtung. Obwohl es dunkel war, trug er eine Sonnenbrille. Dennoch konnte sie asiatische Züge in seinem Gesicht ausmachen.

„Kein schöner Abend?“, fragte er leise.

„Was wollen Sie?“, wich Jennifer aus.

„Ich?“, er schien kurz nachzudenken, „Ich konnte gerade erst Feierabend machen. Von daher wären in warmes Essen und ein vertrautes Bett nett.“

„Nein … Ich meine, was wollen Sie hier“, sie deutete auf das Schild der Bushaltestelle, „Bis morgen früh fährt eh nichts.“

„Hm … Dann muss ich wohl noch lange warten, oder?“

Etwas an der Art, wie er es sagte, verwirrte Jennifer zutiefst. Wieso wirkte dieser Mann so … nonchalant. Es war, als wäre er die Ruhe selbst. Ganz anders als Marius oder ihre Mutter.

Langsam rutschte sie zur Seite und klopfte einladend neben sich auf die Bank: „Ich wollte eh gleich gehen …“

Ja. Das wäre das Beste. Sie sollte lieber zurück … Falls Marius doch bei ihren Eltern anriefe … Es würde nur eine knappe Stunde dauern, bis er hier auftauchen würde.

„Begeisterung sieht anders aus“, der Fremde ließ sich langsam auf den freien Platz nieder, „So ein schlimmer Abend?“

„So ein schlimmer Tag“, offenbarte Jennifer ungewollt.

Sie konnte nicht anders. Die ruhige Art des Mannes färbte auf sie ab. Sie dämpfte das Geschehene irgendwie. Als wäre es nicht mehr so wichtig. Als wäre es plötzlich schal und farblos geworden.

„Und dennoch wird morgen die Sonne wieder aufgehen“, versprach er so still, dass Jennifer die Ohren spitzen musste.

„Klingt … als hätten Sie häufiger schlimme Tage erlebt?“

Der Fremde neigte ihr den Kopf zu. Ein dünnes Lächeln schlich sich auf sein Gesicht. Aber er widersprach ihr nicht.

Marius hätte ihr schon längst widersprochen. Er hätte sie berichtigt. Sie kleingeredet. Ja, sogar beschimpft.

Wieso hatte sie einen solchen Mistkerl geliebt?

Moment … Hatte?

„An heute können wir eh nichts mehr ändern. Doch morgen stehen uns noch alle Möglichkeiten offen, oder?“, fragte er beinahe sanft.

Jennifer starrte auf ihre Reflektion in seiner Sonnenbrille. Es kam ihr irgendwie komisch vor, dass der Mann, der seine Augen bei Nacht hinter getönten Scheiben versteckte, von der morgigen Sonne sprach.

Unwillkürlich entkam ihr ein vorsichtiges Lachen. Es war einfach zu absurd! Wo kam der Typ überhaupt her? In der Nachbarschaft ihrer Eltern wohnten sonst nur ältere Leute. Er passte hier nicht ins Bild. Er-

„JENNIFER!“

Sie zuckte zusammen. Überrascht schaute sie ihre Mutter an. Und Ann.

Ihre Mutter zerrte ihr weinendes Mädchen mit sich durch die dunklen Straßen.

„Alles in Ordnung, Flocke?“, fragte Jennifer sofort ihre Tochter und drückte sie an sich.

Ann verkrampfte sich. Ob es jedoch an der noch immer klammernden Hand ihrer Großmutter oder ihrer eigenen Mutter lag, konnte sie nicht deuten.

„Was soll das?! Wer ist der Kerl?“, schrie Jennifers Mutter da bereits durch die Nacht.

„Mutter, bitte. Es ist schon nach Mitternacht.“

„Und?! Willst du mich belehren?!“, endlich ließ sie von Ann ab, aber nur um Jennifer zu Boden zu schubsen, „Was ist zwischen dir und Marius vorgefallen, hm? Willst du dir nun so einen Faulenzer anlachen? Sitzt du deswegen mit diesem Was-auch-immer hier rum?! Warum weint Ann nach ihrem Vater? Bist du etwa nicht mal dazu fähig, dich um deinen Mann zu kümmern und-“

„Sie sind wirklich sehr laut“, langsam stand der Fremde auf und neigte sachte den Kopf, „Sollte man sich als Dame wirklich so schroff verhalten und rote Abdrücke bei einem Kind hinterlassen? Dabei wird häusliche Gewalt doch nun strenger geahndet, oder nicht?“

„Das … Was fällt dir eigentlich-!“, sie schob sich vor den Fremden.

„Und Ruhestörung wird auch nicht gern gesehen. Ganz zu schweigen von den absurden Gerüchten, die Sie verbreiten. Oder sind Sie gar keine Dame? Ich dachte … Bei der Frisur und der extravaganten Halskette … Aber ein glänzendes Fell bedeckt nicht immer ein edles Herz, oder?“

Jennifer konnte nicht anders – ihr klappte die Kinnlade runter.

Noch nie hatte sie erlebt, dass ihre Mutter so beleidigt worden war. Es zerstörte das Grundgerüst ihres Weltbildes.

Und es beruhigte sie mehr, als sie zugeben wollte.

„Macht doch was ihr wollt“, spuckte ihre Mutter plötzlich aus, ehe sie sich an Jennifer wandte, „Aber wage es nicht, noch einmal Fuß in mein Haus zu setzen! Dass ich überhaupt eine so dreckige Göre wie dich mein Kind geschimpft habe …“, meckernd lief sie zurück – doch wirkten ihre Schritte nun hektischer.

Auf der einen Seite war Jennifer erleichtert und dankbar. Sie hatte ja nicht mal in ihr Elternhaus zurückkehren wollen. Aber …

Unschlüssig blickte sie auf ihre zitternde Ann herab.

Ihre kleine Flocke weinte noch immer stumme Tränen. Sie sah so erschöpft, so müde aus. Sie brauchte Ruhe. Sie musste irgendwo schlafen können! Und die offene Straße war keine Option … Aber Jennifer hatte nicht genug Geld dabei, um ein Hotel zu mieten. Sie war mittellos. Sie-

„Eine wirklich liebreizende Dame“, unterbrach der Fremde ihre Gedanken und öffnete seinen Koffer.

Kurz sah Jennifer etwas Schwarzes darin aufblitzen. Es war lang. Dünn.

Dann schloss er ihn wieder.

„Hier“, er legte einen Umschlag auf die Bank, „Als Entschädigung für meine Einmischung. Das ist sonst nicht so meine Art.“

Er wandte sich um und schritt die Straße herunter. Ruhig. Gelassen. Und irgendwie … zögerlich?

„Mama … Wer … war das …? Du …“

Jennifer drückte ihre verängstigte Tochter an sich. Ann hatte schon genug durchgemacht. Sie sollte sich keine Sorgen mehr machen. Sie war doch nur ein Kind!

Wie hatte ihre Mutter sie nur hierher zerren können?!

„Nur … Ein Gesprächspartner“, erklärte sie Anns misstrauischen Augen sanft.

Und dennoch hatte der Fremde ihr einen Umschlag mit mehreren Hundertern überlassen.

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