K: Vor der ersten Prüfung

„Bias?“, weckte ihn die zaghafte Stimme und sofort saß RT im Bett und ließ seine zweite Seele den Körper lenken.

„Solltest du nicht schlafen, TC?“, fragte Tobias seine Schwester, die unruhig in der Tür stand.

Das blonde Mädchen zuckte zusammen und sah sich nach ihrer Vertrauten um. Diesem stummen Schmetterlingswesen, das ihre Mutter ihr direkt nach der Geburt aufgedrückt hatte. Seine Schwester hatte es schon damals gebraucht, weil ihre Magie zu sprunghaft gewesen war. Weil sie sonst von ihrer eigenen Kraft verschluckt worden wäre.

Dabei hätte sie erst kurz vor dem Eintritt in die Akademie einen Desson bekommen sollen.

„Drüben ist es so kalt“, murmelte TC, „Darf ich bei dir schlafen?“

Noch ehe sie die Frage gestellt hatte, hob RT die Decke für seine Schwester an. Er war eh so oft auf Missionen unterwegs, da würde er sie gewiss nicht an seinen freien Tagen wegschicken!

Vor allem nicht am Abend vor der Aufnahmeprüfung.

„Angst?“, flüsterte er, als sie sich an ihn kuschelte.

Sie reagierte nicht sofort. Erst lud sie Chou ein, sich auf seinem Nachttisch niederzulassen. Danach wandte sie sich wieder RT zu.

Ihre Augen waren feucht.

„Wird Mama sehr sauer sein, wenn ich es nicht schaffe?“

Am liebsten wollte er es abstreiten. Er wollte seiner Schwester sagen, dass sie sich nicht sorgen brauche. Dass sie alles hinbekomme. Dass sie es nur versuchen müsse. Dass sie ein helles Köpfchen habe und die Prüfer am nächsten Tag vom Hocker hauen würde!

Aber was, wenn dem nicht so war? Er wusste, dass ihre Mutter die Aufnahme an der Akademie dieses Semester erwartete. Bei einer gerade mal Vierjährigen! TC’s Geburtstag lag erst zwei Wochen zurück. Sie war nicht so pfiffig wie er in ihrem Alter und ihre Chancen sahen dementsprechend unspektakulär aus. Wie sollte sie also in einer der Sonderklassen aufgenommen werden, die ihrer Mutter so am Herzen lagen?!

„Sie … wird sich damit arrangieren müssen“, erwiderte RT, als er das Kind an sich drückte.

Still nickte sie in seine Brust. Dieses kleine Kind – seine Schwester, die knapp zwölf Jahre jünger als RT war. Und dennoch hatte er sie eher wie eine Tochter als eine Schwester aufgezogen.

Ihre Eltern hatten eben besseres zu tun, als sich daheim blicken zu lassen.

Mutter muss mehrere Abteilungen als Meisterin leiten und Vater ist als Spion unterwegs. Wir können ihnen schlecht einen Vorwurf daraus machen, dass sie uns beschützen, gab Richard zu bedenken.

Ach ja? Aber uns in die Welt setzen, konnten sie?

„Bias?“, unterbrach TC seine Gedanken, ehe sie etwas in sein Nachthemd nuschelte.

„Hey, so verstehe ich dich nicht, Flatterchen“, er nutzte absichtlich ihren alten Spitznamen, um sie aufzumuntern.

Es klappte. Ein sanftes Lächeln schlich sich auf ihre Züge.

Nur um direkt wieder zu zerfallen.

„Wenn ich es morgen nicht schaffe, gibst du mir dann Nachhilfe?“

Nachhilfe? Überrascht betrachtete er ihre angespannte Form. Sie wusste doch, dass Nachhilfe nicht erwünscht war. Die Kinder hier auf Kumohoshi sollten sich die Grundzüge selbst beibringen. Wenn sie vor der Akademie einen Lehrer benötigten, hieß es, dass sie nicht mehr ihren eigenen Weg gingen. Sondern den des Lehrers.

Man würde auf sie herabschauen!

„Flatterchen, ich glaube nicht, dass-“

„Bitte!“, unterbrach sie ihn und schlug eilig die Hände vor dem Mund zusammen, „Ich … Ich weiß nicht, wie ich das Morgen schaffen sollte. Ich- Ich bringe immer alles durcheinander. Ich habe- Ich-“

Sie schniefte.

„Prüfungsangst?“, fragte RT sachte, „Die habe ich früher auch immer gehabt. Keine Sorge. Sie-“

„Nein. Nicht so … eher-“, sie brach ab und schüttelte sich.

Soll ich?, fragte Richard vorsichtig.

Nein. Du bist zu grob mit ihr. Ich kümmere mich um TC, du dich um die Einsätze und unsere Kollegen. Ende, stellte Tobias klar.

Wie du meinst, damit zog sich sein dominantes Ich wieder zurück.

„Schlaf erstmal. Morgen sieht die Welt bestimmt ganz anders aus, ja?“, RT strich über ihre Haare und suchte den Blick seiner Vertrauten, Genso.

Genso war ein kleiner Desson mit dem Aussehen einer Fee. Und sie verstand sofort, was er von ihr wollte. Still klatschte sie einmal in die Hände. RT spürte, wie sie an seinen Chakren zog. Sie verband beide Magien miteinander, um eine Illusion für TC zu erschaffen. Einen lebhaften Traum, der dem Kind einen Moment Ruhe vor dem morgigen Stress erlauben würde.

Erst danach wandte sie sich Chou zu. Ihn musste sie nur einmal berühren, damit die Müdigkeit ihn überfiel. Es war eine sanfte Berührung. Eine stille.

Denn auch sie war stumm.

Dankbar nickte er ihr zu und deutete auf ihr Kissen.

Genso schüttelte den Kopf. Sie umschrieb einen Bogen mit ihren Händen, deutete auf TC, dann auf ihn.

RT blickte erneut auf seine Schwester herab.

Bin ich wirklich zu nachsichtig mit ihr?, fragte er Richard.

Das fragst du mich? Du hörst mir aber schon zu, wenn ich dein Verhalten kritisiere, oder?

Tobias seufzte. Er befreite einen Arm aus der Decke, um Genso mit ein paar flinken Handzeichen zu antworten. Es war eine knappe Ausrede. Immerhin war er ja für TC verantwortlich. Er musste sich um sie kümmern. Er musste für sie da sein.

Ihre Eltern ließen sich nur einmal die Woche blicken.

Nachgiebig nickte Genso und beschrieb drei neue Gesten.

Es ging um die Nachhilfe. Ob er sie gewähren würde oder ob er TC lieber fortbringen würde? Denn eine Schülerin die nur dank Nachhilfe in der Akademie aufgenommen werden würde, würde ihre Mutter ohnehin aus dem Stammbaum streichen wollen.

„Ich weiß es noch nicht“, gestand er seiner Vertrauten.

Er konnte die entsprechenden Gesten nicht mehr in der Luft beschreiben. Dafür fühlten sich seine Arme zu schwer an. Lieber wollte er TC darin festhalten und nie wieder loslassen!

Am Ende war RT derjenige, der die ganze Nacht nicht schlafen konnte. Er spürte seine eigene Prüfungsangst aufsteigen. Mit klopfendem Herzen kämpfte er sich um halb sechs aus dem Bett, um ein Frühstück für TC vorzubereiten und den Tisch zu decken. Nichts Großes. Einzig leichte Speisen. Sonst wäre ihr Magen zu voll.

Ihre Eltern ließen sich natürlich nicht blicken.

„Wir schaffen das“, flüsterte Tobias TC zu, als sie das Haus nur in Begleitung ihres Schmetterlingsdesson verließ.

Ihr Nicken wirkte nicht sehr überzeugt.

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