B: Hervorbrechende Erinnerungen

Es war bereits nach drei Uhr morgens, als Liane die Geräusche von unten vernahm: Klimpern. Leises Poltern. Schritte.

Vorsichtig setzte sie sich in ihrem Bett auf und blickte zu Shiloh herüber. Eigentlich hatte ihre Freundin erst nach Liane einschlafen wollen. Als sie jedoch nur noch gähnen konnte, hatten sie sich gemeinsam ins Bett gelegt.

Sofort war das andere Mädchen im Land der Träume versunken.

Knirschen.

Entschlossen stand Liane auf und entriegelte ihre Zimmertür. Sie musste schnell hindurch schlüpfen, damit das Licht von nebenan Shiloh nicht wecken würde. Und noch schneller musste sie die Tür wieder schließen, ehe ihr Vater bemerkte, dass sie Besuch hatten.

Eines nach dem anderen.

„Hi“, murmelte sie leise, als dieser gerade den kaputten Blumentopf beäugte.

Brummend wies er auf die Unordnung: „Warst du das?“

Etwas in ihr verkrampfte sich. Sie wollte nicht lügen. Auf keinen Fall. Aber die Wahrheit …

„Ein Versehen“, wich sie aus und rieb sich die Schläfen, „Ich konnte es noch nicht sauber machen. Entschuldige …“

Das schien ihm vorerst zu reichen. Oder war er einfach zu erschöpft, um das Thema zu vertiefen? Sicherlich würde er noch mit ihr schimpfen wollen. Hatte er das nicht gemeint? Ehe er los war? Wieso betrachtete er sie dann so nachdenklich? Machte er sich Sorgen?

„Habe ich dich geweckt?“

Statt zu antworten, wog Liane ihre Worte behutsam ab. Wie konnte sie die Wahrheit so verpacken, ohne dass er von dem Chaos in ihrem Kopf erfuhr?

„Nein. Ich … Ich war noch wach, weil …“, hektisch suchte sie nach Ausreden, „Also, da ist dieser Junge und-“

„Hat er sich an dich rangemacht?!“, sofort stand ihr Vater vor ihr, „Wenn er-“

„Nein!“, erschrocken riss sie die Hände vor ihr Gesicht. Ihre Augen huschten zur Zimmertür. Wenn Shiloh davon wach werden würde und ihr Vater sie-

„Ist er da drin? Liane! Ist er da- Li-Liane? Spatz, warum weinst du? Alles gut? Hat er dir wehgetan? Hey … Ist-“

Langsam kam die Hand auf sie zu. Sie wirkte groß. Beschützend. Vier Finger und ein Daumen. Sonnengebräunt. Stark.

Erschrocken schlug Liane sie weg. Ihr ganzer Körper erschauderte. Ihr war das alles zu viel. Warum war sie überhaupt aufgestanden? Warum tat sie sich das an? Wie sollte sie sich so ein Leben gönnen?

„Bitte. Lass es einfach, ja? Bitte. Das … Ich kann nicht mehr. Ich …“

Noch während sie sprach trat eine verschlafene Shiloh auf den Flur. Gähnend winkte sie ihrem Vater zu und gab dabei schiefe Laute von sich, die wie eine langgezogene Begrüßung klangen.

Ihr Vater ignorierte sie.

„Liane … Was hast du?“, seine Stimme zitterte, während seine Hand schlaff herabfiel. Sie glaubte, seine Angst zu spüren. Angst und Trauer und – was war das?

„Na toll“, plötzlich schob sich ihre Freundin mit gespielten Elan dazwischen, „Super gemacht. Da hat sie schon die ganze Zeit Liebeskummer und nun walzen Sie einmal rüber!“, Shiloh drehte Liane entschlossen um und führte sie zurück ins Zimmer, „Vater des Jahres. Klasse gemacht. Erst dem Kummer für mehrere Stunden überlassen und nun meine ganze Kummerkastenarbeit schreddern. Gehen Sie ins Bett und halten Sie die Klappe. Sonst machen Sie es nur noch schlimmer, klar?!“

Und schon war die Tür zu.

Liane erschauderte. Nein. Das hatte sie nicht gewollt! Es lag nicht am Liebeskummer! Ihr Vater sollte sich keine Sorgen machen. Keine Vorwürfe. Er-

„Still“, flüsterte Shiloh ihr zu, als sie sich umdrehen wollte, „Glaub mir. Dass dein Vater ein Helikopter ist, wusste ich ja, aber das? Heiliger Dalmatinerhintern. Ihr braucht echt mal Abstand. Warte bis morgen, wenn ihr beide frische Nerven habt, klar?“

Das mochte vielleicht stimmen, aber … konnte ihre Freundin es nicht spüren? Diese Verzweiflung und Angst, die von ihrem Vater ausgegangen waren? Wie konnte Liane ihm den Rücken zuwenden? Er war doch ihr Va- Va- Vater?

Wieso fühlte sich das Wort nun in ihrem Kopf so falsch an?

„Entschuldige, dass wir dich geweckt haben. Ich wollte nicht-“

„Schon gut“, Shiloh zuckte nur mit den Schultern und ließ sich zurück aufs Bett fallen, „Ein paar Stunden haben wir ja noch, ne?“

Nickend setzte sich Liane dazu. Sie musste wieder an die Hand denken. Die Hand ihres Vaters. Und wie sie sich ihr näherte. Er hatte ihr nur helfen wollen. Sie kannte seine Hand ja. Immer wieder hatte sie diese als Kind ergriffen. Er hatte ihr damit aufgeholfen. Er hatte sie in den Arm genommen. Beschützt.

Dennoch war seine Hand nicht die, die sie gerade brauchte.

„Ich glaube, du hast Recht. Wir … wir brauchen wirklich mal etwas Abstand zueinander“, murmelte sie.

„Klingt gut“, ihre Freundin sprach mit geschlossenen Augen, „Manchmal ist Abstand die beste Heilung. Hat mit mir und den Highlands auch geklappt. Habe früher wandern geliebt und es dann plötzlich gehasst. Die Stimmung hat wohl nicht gepasst …“

Liane nickte. Sie wartete noch einige Momente, um sicherzugehen, dass Shiloh wirklich schlief, ehe sie den Brief aus der Hosentasche zog.

Nachdenklich wog sie ihn in den Händen hin und her. Ein Teil von ihr lechzte danach, diesen Chemy zu treffen. Sie wollte Antworten! Sie wollte es endlich verstehen … Aber …

Eine seltsame Angst hielt ihr Herz umklammert. Es war, als würden sich Schuldgefühle in ihr Herz schleichen. Schuldgefühle und …

Warum hatte sie sich vorhin gewünscht, dass die Hand ihres Vaters schwarz gewesen wäre?

Die plötzliche Erkenntnis ließ sie zusammenfahren. Sie presste die Lider zusammen. Drückte die Fäuste in ihre Augen, bis die blinde Schwärze blitzte. In ihrem Kopf erweckte sie das gehörnte Wesen zum Leben. Sie durchforstete ihre Erinnerungen nach dem Geschöpf. War er ein Dämon? Ein Engel? Was war er? WAS?!

Ist das hier … ist das hier wirklich? Also ist das hier echt?

Ihre eigene, kindliche Stimme ließ sie zusammenfahren. Allmählich baute sich ein Bild in ihrem Kopf auf. Dort waren Felsen. Ein Flausch hatte sie überzogen. Dazwischen kämpften sich Blumen hervor. Vor ihnen blitzte es. Aber es war kein Gewitter. Nein. Es wirkte eher wie geladene Luft. Wie …

Das gehörnte Wesen stand schräg vor ihr. Seine Mundwinkel zogen sich nach unten. Dennoch spürte sie seine Belustigung. Er lächelte. Deswegen funkelten seine Augen trotz dieser finsteren Schwärze. Er …

Was war er für sie?

Es mag nicht die Realität sein, in der du lebst. Aber wieso sollte sie nicht existieren? Warum sollte nicht dein anderes Leben ein Traum sein? Vielleicht bildest du dir das ja nur ein?

Erschrocken riss Liane die Augen auf. Ihr Herz klopfte. Ihr Shirt klebte an ihrem Rücken. Ihre Finger strichen panisch über die geflochtenen Zöpfe.

Schaudernd stand sie auf und sah aus ihrem Fenster. In der Ferne kroch bereits das erste Licht über den Horizont und-

Vor ihrem Haus stand eine Limousine. Die getönten Scheiben waren alle verschlossen. Dennoch spürte sie, wie jemand sie beobachtete. Es hatte etwas Vertrautes. Etwas …

Vorsichtig bildeten ihre Lippen ein Wort. Sie sprach den Namen nicht aus. Formte ihn nur. Als müsste sie ihn auf der Zunge testen.

Die Scheinwerfer flammten kurz auf.

Dann fuhr Chemy fort.

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit Deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Twitter-Bild

Du kommentierst mit Deinem Twitter-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit Deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..