B: Der Talisman

Der Brief begleitete sie tagein, tagaus: Zum Schlafen legte sie ihn unters Kopfkissen. In der Schule steckte er in ihrer Hosentasche. Beim Duschen lag er direkt auf ihren Wechselsachen. Nach wenigen Tagen hatte sie ihn schon so oft gefaltet, dass er an den Kanten auseinanderfiel! Aber da sich jedes Zeichen davon bereits in ihren Kopf gebrannt hatte, scheute sie sich nicht, ihn auch durch das Laminiergerät zu schieben.

So war es sicherer. Nur so konnte niemand versehentlich über den Inhalt stolpern. Weder ein Klassenkamerad …

… noch ihr Vater.

„Wann willst du eigentlich mit Oli reden?“, riss Shiloh sie aus ihren Gedanken und überrascht erkannte Liane, wer direkt vor ihnen zur Schule lief.

„Ich … Ich weiß nicht, was ich sagen soll“, gestand sie leise und drosselte sofort das Tempo.

Wieso lief ihr der Junge auch überall über den Weg?!

Oder kam es ihr nur so vor?

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B: Ursachensuche

Die Bilder der Zukunft wurden mit jedem Mal verschwommener. Sie schwankten zu sehr zwischen verschiedenen Versionen: Versionen, in denen Leute starben. In denen sie überlebten. In denen sie depressiv wurden. In denen sie sich abwandten und sich wieder vertrugen …

Dabei hatte Chem Wak gehofft, dass sein Brief eine friedliche Zukunft stabilisieren würde!

Seufzend massierte er sich die Schläfen und wog alle Möglichkeiten erneut ab. In keiner schien Liliths Stiefvater noch gewaltsam sterben zu müssen. Gut. Damit konnte er ihr diese Trauer wohl ersparen. Aber als Kehrseite würde ihn der Mann daran hindern, mit ihr in Kontakt zu treten.

Eher würde ihr Stiefvater sie irgendwo einweisen lassen, als ihre Erinnerungen zu unterstützen.

Nachdenklich schaute er durch die getönten Scheiben zu dem großen Haus herüber. Er ignorierte, wie Mr. Brume ihn beobachtete. Stattdessen setzte sich Chem Wak ein neues Vorhaben in den Kopf. Eine Absicht, die er sich selbst einbrannte, ehe seine Welt ins Schwanken geriet. Alles drehte sich. Stimmen verdrehten sich. Gefühle purzelten durch ihn hindurch-

Dann befand er sich in seinem Büro.

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B: Hervorbrechende Erinnerungen

Es war bereits nach drei Uhr morgens, als Liane die Geräusche von unten vernahm: Klimpern. Leises Poltern. Schritte.

Vorsichtig setzte sie sich in ihrem Bett auf und blickte zu Shiloh herüber. Eigentlich hatte ihre Freundin erst nach Liane einschlafen wollen. Als sie jedoch nur noch gähnen konnte, hatten sie sich gemeinsam ins Bett gelegt.

Sofort war das andere Mädchen im Land der Träume versunken.

Knirschen.

Entschlossen stand Liane auf und entriegelte ihre Zimmertür. Sie musste schnell hindurch schlüpfen, damit das Licht von nebenan Shiloh nicht wecken würde. Und noch schneller musste sie die Tür wieder schließen, ehe ihr Vater bemerkte, dass sie Besuch hatten.

Eines nach dem anderen.

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B: Ein nächtlicher Besucher II

„Mit meinen Eltern ist alles geklärt. Ich bleib heute Nacht hier, damit wir ein Gruppenprojekt fertig bekommen. War die beste Ausrede, okay?“, murmelte Shiloh, während sie ihr Handy weglegte und den letzten Bissen ihrer Pizza verschlang.

„Hm“, Liane zuckte mit den Schultern.

Ihr eigenes Essen lag noch fast vollständig im Karton. Es fehlte nur ein Stück. Das, welches sie ihrer Freundin überlassen hatte.

„Wir können immer noch die Polizei rufen und-“

„Nein“, entschlossen schüttelte Liane den Kopf, sodass ihre Zöpfe umherpeitschten, „Nein. Ich … Ich glaube nicht, dass sie wiederkommt. Das würde keinen Sinn machen.“

„Du meinst, weil sie Geld dagelassen hat?“, Shiloh lehnte sich gegen das Bett. Sie hatten es sich auf dem Teppich gemütlich gemacht. So waren sie nicht durch das Fenster zu erblicken.

„Es wirkte wie eine Entschuldigung. Für den kaputten Blumentopf“, erschöpft schob Liane den Pizzakarton von sich und umarmte ihre Beine.

Wieso war das Leben nur so kompliziert?

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B: Ein nächtlicher Besucher I

Lachend öffnete Shiloh den Ofen, während Liane die Batterien aus dem schreienden Feuermelder riss. Sie hatten sich so sehr verquatscht, dass die Pizza eher den Bräunungsgrad von Holzkohle erreicht hatte.

„Davon“, ihre Freundin warf das Blech in die Spüle, „ess ich ni-“, das letzte Wort ging in einem Hustenanfall unter.

Eilig öffnete Liane die Fenster und wedelte mit einem Geschirrtuch herum: „Das ist mir noch nie passiert!“

Sonst hatte sie immer neben dem Ofen gewartet. Wieso auch nicht? Wenn ihr Vater da war, kochten sie eher. Und wenn sie allein war, gab es keinen Grund, die Küche zu verlassen.

„Echt?“, krächzend schüttete Shiloh sich etwas Limo in den Rachen, „Wurde mal Zeit!“

„Wurde Zeit?“

„Na, wann wolltest du sonst mal die Küche in die Luft jagen?“

Unwillkürlich zuckte Liane zusammen. Die Erinnerungen schlugen auf sie ein. Sie dachte wieder an den Abend zurück. An den fremden Mann. Wie er sie Lilith genannt hatte und ihr Haus-

„Das bekommt keiner mehr runter. Bestellen wir uns was? Dein Alter ist ja eh noch nicht zurück“, durchbrach ihre Freundin die lodernden Gedanken.

„Ja… Ja! Klar. Gern!“

Liane warf das Handtuch zur Seite und eilte nach nebenan, um ihr Telefon zu holen. Damit hätte sie eine Aufgabe. Dann könnte sie die Erinnerungen ausblenden. Ihr Tag war schon so lang genug gewesen – da konnte sie auf die verwirrenden Erinnerungen auch verzichten.

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