M: Über die Familie

Lucifer atmete tief ein. Dann aus. Sachte rollte er seine Schultern nach hinten.

Noch immer konnte er die Wunde auf seinem Rücken spüren. Sie brannte. Jedoch war kein Gift dafür verantwortlich. Eher der Verrat, der ihn pochend verfolgte. Der ihn mit seinen Krallen in der Nacht heimsuchte. Der seine Messer nach ihm-

Wie hatte er ihr nur vertrauen können?!

„Und ihr seid heute Abend zurück?“, fragte der Junge gerade die Polizistin. Sue. Oder Lydia. Was wusste Lucifer schon. Sie war unwichtig. Der Bengel war unwich-

Nein.

Lucifer atmete nochmal durch.

Der Junge war nicht unwichtig. Er war Angelines Bruder. Er kümmerte sich um das Baby. Um seinen Neffen. Er blieb zurück, während der Rest auszog, um Michael zu retten. Dieser Junge gehörte zu seiner Familie. Er …

Er ähnelte Michael.

Die flüsternde Antwort der Frau war Lucifer einerlei. Stattdessen checkte er erneut seine Ausrüstung. Sein Revolver und eines von Kims Messern ruhten in seinem Mantel. Die neue Munition und die Ersatzwaffe daneben hatten ihm Monas Kinder letzte Woche beschafft. Jedoch lagen sie immer noch unangetastet zwischen den Falten des Stoffes.

Er vertraute diesen Leuten nicht.

Er musste ihnen vertrauen.

Wütend stand er auf und schüttelte seine Glieder – ein lächerlicher Versuch, um sich zu beruhigen. Ein hoffnungsloser! Dann nickte er der Polizistin zu, die sogleich aufstand. Sie drückte Angelines Bruder nochmal flüchtig. Sah auf das Baby herab. Erinnerte den Jungen an die versteckten Waffen und dass er gut auf sich aufpassen solle. Dass er still bleiben solle. Dass sie bald zurück wären.

„Ist gut … Viel Erfolg.“

Zu Lucifers Überraschung blickte Angelines Bruder ihn dabei an. In seinen Augen lag eine Mischung aus Hoffnung und … war das Unbehagen? Angst? Scham? Seit seine andere Schwester weggerannt war, wirkte der Junge so befangen. Etwas Eigenwilliges hatte sich in seinen Blick geschlichen. Etwas Fremdartiges und Vertrautes und irgendwie auch-

Nein! Er wusste es doch eh nicht zu deuten. Er hatte keine Zeit, es zu deuten!

Er musste Michael retten.

Trotzdem …

„Hier seid ihr vorerst sicher“, murmelte er dem Jungen zögerlich zu, „Oben ist alles vermint und die Fallen in den Gängen habe ich alle nachgebessert. Im Kühlschrank ist Milch für den Kleinen. Einfach warm machen und …“, er stoppte und wandte sich abrupt ab.

Das wusste der Bengel doch!

Lucifer hielt sie nur auf …

Ohne ein Wort des Abschieds schob er sich aus dem Keller in das angrenzende Tunnelsystem. Er blickte auf die Frau. Zog eine Augenbraue hoch. Überließ ihr die kleine Taschenlampe, die sie nur gelegentlich in der Dunkelheit aufflackern ließ.

„Hier entlang“, antwortete die Polizistin still und sofort folgte Lucifer ihren Schritten durch die versteckten Gänge Merichavens.

Er wollte ihr nicht vertrauen. Er wollte Monas Ärztin nicht vertrauen. Er wollte Monas anderer Tochter nicht vertrauen! Was verband die Fremden schon mit seiner Familie? Mit seinem Bruder? Mit seinem kleinen Schwager? Mit seinem noch kleineren Neffen?!

Aber … Sie waren die einzige Hilfe, auf die er hoffen konnte. Monas andere Kinder waren damit beschäftigt, den irren Santa auszubrechen. Trigger war von der Polizei für Tod erklärt worden. Und neben Kims Verrat und dem toten Körper, den sie erst vor zwei Wochen einäschern mussten …

Allein käme er nicht mal in die Nähe des Krankenhauses!

Es dauerte zwei Stunden, ehe sie mit Jen, Monas ältesten Tochter, zusammenstießen. Sie wartete bereits auf sie. In der einen Hand hielt sie eine gedimmte Taschenlampe, in der anderen eine schussbereite Waffe.

„Zwischenfälle?“, grüßte sie die beiden.

„Keine. Alles still“, erklärte die Polizistin.

Nun wandte sich Jen ihm zu, sie schien befangen, nein, unsicher zu sein: „Bist du dir wirklich sicher, dass du mit willst? Wir haben nur-“

„Bin. Ich. Mir. Wirklich. Sicher?“, Lucifer knallte ihr die Worte wutentbrannt zurück, „Wenn du kalte Füße kriegst, dann zieh Leine. Aber ich werde nicht zulassen, dass Niklas meinen Bruder in die Hände bekommt!“

„Nicht so laut“, ermahnte die Polizistin sie, „Wir wissen nicht, wer-“

Genervt wandte sich Lucifer ab und blendete die Frauen aus. Er hasste es! Er hasste es, wie seine Wut ihn einnahm. Er hasste es, dass er nutzlos gewesen war. Er hasste es, dass Kim nur durch ihn die Wahrheit erfahren hatte und Hard Rock ihm deswegen auflauern konnte. Dass deswegen-

Seine Fäuste zitterten. Fäuste? Ja. Angestrengt atmete er durch und öffnete seine Hände wieder.

Er durfte sich nicht von seinem Zorn beherrschen lassen.

„Ein Deal ist ein Deal“, murmelte Jen – sie wirkte genervt, aber professionell. Gut. Damit konnte er arbeiten. Dann würde er sich zumindest nicht schuldig fühlen, wenn sie als Kollateralschaden enden würde.

„Wo ist deine Schwester?“, fragte er stattdessen.

Er musste fokussierter bleiben!

„Sissy ist bereits im Krankenhaus. Sie hat sich gestern rein geschlichen. In einer Viertelstunde wird sie für die Ablenkung sorgen“, Monas Tochter zog eine Karte aus ihrer Jacke, „Michael befindet sich im Raum 256. Also hier“, sie wies auf ein Zimmer im Westflügel, „Das ist im zweiten Stock. Einer der Tunnelausgänge befindet sich direkt im Keller. Falls der versperrt ist, müsstet ihr über das gegenüberliegende Gebäu-“

„Er wird offen sein“, unterbrach die Polizistin, „Und wenn nicht – ich weiß, wo sich die Schlüssel befinden.“

„Über die Jahre könnten die Schlösser ausgetauscht worden sein.“

„In unterbezahlten Krankenhäusern? Selbst wenn, ich krieg die Tür auch anderweitig auf.“

„Ganz schön selbstsicher, Cop“, entflohen Lucifer die Worte und erstmalig starrte die Frau ihn an.

„Cop …“, sie schüttelte lächelnd den Kopf, „Nein. Die Lüge kannst du verrecken lassen.“

Irritiert beäugte er sie nun genauer. Die Lüge? Wirklich? Vor einem knappen Monat war sie doch noch in Uniform unterwegs gewesen! Damals hatte Angeline ihm erzählt, dass diese Frau eine Ordnungshüterin wäre. Dass sie trotzdem vertrauenswürdig wäre. Dass sie sich um Tyl-

Er musste wieder an die Kinder denken. Die Kinder im Keller der alten Arztpraxis. Der Junge und das Baby.

Sie durften nicht zu viel Zeit vergeuden!

„Wie geht’s drinnen weiter?“, fragte er Jen.

Michael.

„Hier, hier und hier konnte Sissy Niklas‘ Leute ausmachen. Sie wurden kurz nach Michael eingeliefert – alle mit kleineren Verletzungen aber bis auf die Zähne bewaffnet. Wir müssen also ungesehen an ihnen vorbei, ehe sie Verstärkung rufen können. Und da sie ihn morgen verlegen lassen wollen, werden sie mit einem Angriff rechnen.“, Monas Tochter wies nun auf eine Treppe im Westflügel, „Die hier wird besonders bewacht werden. Und genau deswegen solltet ihr sie nehmen.“

„Bitte?“, ungläubig zog Lucifer die Augenbrauen hoch. Wenn das ihr Plan sein sollte, dann war es zumindest kein guter.

Die Polizistin blieb still neben ihm stehen.

„Ich weiß, wie du und Kim sonst gearbeitet habt. Ihr hättet euch vom Dach abgeseilt und wärt durchs Fenster rein. Nette Idee. Aber deswegen werden sie damit rechnen. Deswegen musst du umdenken. Heute kommt es nur auf die Außenwirkung an: Lydia kann super in andere Rollen schlüpfen und du bist am Rücken immer noch verwundet. Gebt euch für Arzt und Patient aus. Ihr werdet einfach-“

„Niklas‘ Leute kennen mein Gesicht. Egal, wie gut ich mich auch verstelle, sie werden mich erkennen. Der Unfug wäre Michaels Todesurteil!“, unterbrach er Jen erneut.

„Leise!“, zischte die Polizistin ihnen zu.

Lucifer bemerkte, dass er schon wieder die Hände geballt hatte. Diesmal beließ er es jedoch dabei. Er rollte mit den Augen, um seinem Missmut Ausdruck zu verleihen. Spürte, wie angespannt sich sein Körper anfühlte. Wie sehr er aufspringen, losrennen wollte!

Er hatte keine Zeit für diesen Kindergarten! Mona hatte ihm zugesichert, dass sie sich um den Plan kümmern wollte. Sie hatte ihm Hilfe für diese Aktion zugesagt. Für Michaels Rettung.

Michael …

Aber wenn Lucifer dabei starb, wäre das Leben seines Bruders nichts mehr für die Frau wert. Ganz zu schweigen die Leben der Kinder, die er hierfür zurücklassen musste. Seine Familie …

Familie …

Warum musste es nur immer so verzwickt sein, wenn er seine Familie beschützen wollte? Erst unter Niklas. Dann in der Jadewohnung. Nun unter Mona!

Es nahm kein Ende …

„Tja, wie gut für dich, dass niemand dein Gesicht sehen wird“, Jen zog einen dunklen Stoff und eine Marke hervor, „Du wirst als Undercoverpolizist eingeliefert werden. Lass sie aber auf keinen Fall deine Identität überprüfen. Jory hatte Moms Spion versehentlich umgebracht, als er noch nicht ganz da war. Und nun könnte ein Anruf ausreichen, damit du auffliegst.“

Lucifer nahm sich das kleine Abzeichen. Er drehte es in den Händen. Löste das Metall vom Leder und starrte auf den eingravierten Namen.

„Fredrik Schal? Aus welchem Jahrhundert stammte der Kerl denn?“

„Aus einem, das du nun nachahmen musst“, Jen drückte ihm eine Maske in die Hand und deutete auf die Uhr an ihrem Handgelenk, „Ich muss los. Ich werde euch auf Sissys Zeichen hinten abholen. Lasst mich nicht zu lange warten!“

Stumm sah er ihr nach. Er hasste es, wie selbstsicher sie klang. Sie …

Murrend starrte Lucifer auf die Maske, eher er sich die Marke an seinen Hosenbund steckte. Er streckte sich. Rollte die Schultern zurück. Spürte die aufkeimenden Schmerzen.

Sie durften keine Zeit verlieren!

„Wo lang?“

Zur Antwort deutete die Polizistin-oder-auch-nicht-Polizistin auf eine Leiter ein paar Schritte weiter.

„Ich geh vor, damit ich notfalls aufsperren kann“, erklärte sie still und nickend ließ er sie gewähren.

Der Schacht war eng. Die Sprossen kalt und mit großen Abständen zueinander. Hätte die andere ihm den Aufstieg nicht gezeigt, so wäre er Lucifer gewiss nicht aufgefallen.

Er lauschte, wie sie oben klimperte. Etwas schabte. Dann ertönte ein kratzendes Geräusch.

Stumm schoben sie sich in einen dunklen Keller. Alte Geräte standen hier rum. Alle abgedeckt mit Tüchern. Alle eingestaubt. Alle-

Sie waren irrelevant.

Lucifer schlich sich durch den Raum. Immer der Polizistin hinterher. Ihm war egal, was sie behauptete. Ihre Bewegungen waren nicht die einer Kriminellen. Sie machte sich nicht klein genug. Lief zu sicher. Wirkte zu-

„Hier geht‘s raus“, erklärte sie still, „Ich muss mir gleich nebenan einen Kittel besorgen. Du solltest deine Maske jedoch schon hier aufsetzen. Und schieb am besten die Haare mit runter.“

„Darauf wäre ich nie gekommen“, bemerkte er grummelig, ehe er seinen Zopf unter den Stoff quetschte.

Er fühlte sich so eingeengt.

„Versuch, die Schultern mehr hängen zu lassen. Oder zu humpeln. Kriegst du das hin?“

Die Ratschläge nervten, waren aber sinnvoll. Also ließ er seinen rechten Fuß hinterher schleifen. So folgte er ihr nickend hinaus. Raus aus dem Lagerraum. An zwei weiteren Türen vorbei. Am Waschraum blieben sie kurz stehen. Die Polizistin drückte ein paar Nummern an einem Automaten und sofort wurde ihr Dienstkleidung ausgeworfen. Sie streifte sich die Sachen zügig über. Warf Jacke und Schuhe in den Wäschekorb. Schob sich ihre Waffen in die Kitteltaschen.

Anschließend führte sie Lucifer durch die leeren Gänge nach oben. Vor der Tür zum Erdgeschoss stoppten sie und lauschten.

Stimmen erklangen von der anderen Seite. Ein wildes Gemurmel, das sich miteinander verflocht. Alles ruhig. Alles-

Dann ging das Rotlicht an. Jemand rief etwas. Hastige Schritte. Befehle. Weinen. Schimpfen. Ängstliches Rufen-

„Jetzt“, sicher führte die Polizistin ihn in das Chaos. Es behagte Lucifer nicht, dass sein Blickfeld so eingeschränkt war. Er fühlte sich schutzlos. Abhängig! Doch war es die richtige Entscheidung gewesen-

Schon im Foyer befand sich einer von Niklas‘ Spitzeln.

Die Polizistin passte ihre Schritte denen ihrer Umgebung an. Sie ging zwischen den anderen unter. Er versuchte, sie nachzuahmen. Auch unterzugehen. Auch unbemerkt zu bleiben, als sie die Treppe hochliefen. Sie zeterte einen von Niklas‘ Handlangern an, der die Treppe blockieren wollte. Führte ihn den Flur entlang. An den Räumen 251 und 252 vorbei. Weiter. An neugierigen Augen vorbei. An einer Frau vorbei, die eilig ihr Baby forttrug. An einem Mann vorbei, der sie wie ein Adler beäugte. An den Räumen 253 und 254 vorbei. An einer alten Frau in dem einen und einem Mädchen in dem anderen Zimmer. 255. An einer rauchenden Frau davor. 256-

Kim.

Sein Herz stockte, als ihr Blick über sie flog. Er war flüchtig. Hastig. Sie stritt mit jemanden in Michaels Zimmer. Wirkte dabei so sehr wie früher. So sehr wie-

War Michael wach? Ihren Quellen zufolge sollte er noch bewusstlos sein. Oder war jemand bei ihnen? Wie sollten sie an Kim vorbei kommen? Kim kannte ihn! Kim wusste, wie er tickte! Kim-

Nein.

Es ging hier nicht um Kim. Es ging nicht um ihn. Es ging um Michael. Michael. Ja. Er musste seinen Bruder hier rausholen. Er musste-

Eine Pflegerin rannte an ihnen vorbei. Stoppte. Wandte sich der Polizistin zu.

„Giftanschlag drei Straßen weiter. Gleich kommen etwa fünfzig Neue rein. Wir sollen jeden entlassen, der soweit wieder fit ist“, sie gab der Polizistin eine Liste und nun erkannte Lucifer Sissys Gesicht in der Pflegerin.

„Ich soll mich um den ViP kümmern. Dann kann ich-“

„Die Räume sind alle voll. Deswegen müssen wir ja pronto entlassen.“

„Ich kann ’nen Cop nicht einfach auf dem Flur warten lassen.“

„Dann geht da rein“, nun wies Sissy auf Michaels Zimmer und ihre heimlichen Beobachter spannten sich an, „Der Typ liegt im Koma. Da habt ihr die beste Anonymität.“

„Pf! Besser geht’s nicht, ne?“, die Polizistin wandte sich Lucifer zu, „Entschuldigung. Haben Sie ein Problem damit?“

Erst wollte er etwas sagen. Dann besann er sich eines besseren und schüttelte nur stumm den Kopf.

Undercoverpolizisten wurden dazu angehalten, nicht zu viel zu sprechen, damit man sie nicht anhand ihrer Stimme erkennen konnte. Diese Verkleidung … Sie erschien ihm plötzlich gar nicht mehr so dumm.

Die Raucherin wollte etwas sagen, jedoch wank Sissy mit einem „Dein Kleiner wird eh gleich entlassen, halt mal die Pferde still“, ab und hetzte den Gang runter.

Angespannt schob sich Lucifer in den Raum 256. Nun erkannte er auch Dr. Devison II neben seinem Bruder. Der Arzt hatte sich über Michael gebeugt. Hatte gerade noch etwas erklärt. Verstummte jedoch, als sie eintraten.

Irritiert sah Niklas‘ Doktor sie an.

Kim wandte sich allerdings hastig ab. Sie setzte sich neben den Patienten. Starrte auf den Bewusstlosen herab. Als … als müsse sie ihr Gesicht verdecken und-

Stimmt! In all dem Chaos hatte er ganz vergessen, dass ihre Steckbriefe ja in den Präsidien hingen. Deswegen mied sie den direkten Kontakt mit Fremden. Wahrscheinlich war ihre Mission noch bis morgen hier angesetzt. Wenn sie nun also auffiel-

Ihr Verhalten kam ihm so vertraut vor, dass er sich beinahe schuldig fühlte.

„Ich muss ’nen ViP durchchecken und die anderen Räume sind belegt“, erklärte die Polizistin mit gereizter Stimme, „Ich dachte, der Rest von uns sollte sich um die Entlassungen kümmern?“

„Ich …“, Dr. Devison II sah hastig zu Kim herüber, schluckte, lächelte so scheinheilig, „Die Freundin unseres Langschläfers hatte mich gerade gerufen, weil sie eine Regung festgestellt haben wollte. War aber falscher Alarm. Wenn Sie uns also bitte entschuldigen würden?“

Er zupfte an Kims Ärmel und grob schlug sie seine Hand zurück.

„Ich. Werde. Hierbleiben!“

„Verzeihung, aber … Nun ja. Die Regelungen und Gesetze-“

„Seit wann arbeitest du Grünschnabel eigentlich hier?“, fuhr ihn die Polizistin nun an, „Kannst du nicht vernünftig reden, oder was?! Raus mit euch! Ehe wir mit den Klagen der Staatsanwaltschaft zu rechnen haben!“

Lucifer stützte scheinheilig seine Seite. Er täuschte Schmerzen vor. Hoffte, dass man ihm seine Tirade abnahm, wenn er nur scharf genug Luft einsog. Er durfte nicht nur dumm rumstehen. Verdammter!

Ungefragt holten ihn die Erinnerungen ein. An die einzige Mission mit Kim, bei der er sich je verkleiden musste. Dabei war es in der Planung nur ein Witz gewesen, ein alberner, bescheuerter Witz, der …

Seither wusste sie, wie er schauspielerte. Sie kannte ihn. Und wenn er nicht aufpasste-

Kim fuhr hoch und stolzierte zügig hinaus.

„Scheiße! Beeilt euch aber, klar?!“

„Hey! Ich mach nur meinen bekackten Job!“, rief die Polizistin ihr hinterher und riss die Jalousie an der Tür herunter.

Lucifer zog sich die Maske runter, sobald der Sichtschutz sie verdeckte. Er schüttelte sich. Hetzte zu seinem Bruder herüber. Strich über dessen Wange. Zitterte. Atmete tief durch.

Michael sah so friedlich aus.

„Wir müssen-“

Hastig legte er einen Finger auf seine Lippen. Er deutete durch den Raum. Dann auf seine Ohren.

Und hoffte inständig, dass die Frau mitdenken konnte.

Zu seiner Erleichterung nickte sie.

Gut. Denn sie wussten nicht, ob das Zimmer verwanzt war. Sie wussten nicht, was Kim oder dieser Dr. Devison II hier gerade noch getan hatten. Sie wussten überhaupt nichts!

Er starrte auf die Maschinen, an die sein Bruder angeschlossen war. Ein rhythmisches Piepen erfüllte den Raum. Daneben ein Surren. Die Monitore um ihn herum blinkten stetig. Sie-

Sie mussten sich beeilen!

Grob riss Lucifer die Decke weg. Er starrte auf den Rollstuhl neben der Tür. Dann auf seinen Bruder.

Was sein musste, musste eben sein.

Stumm wies er die Polizistin an, ihm zu helfen. Sie lösten Michael von den Geräten. Richteten ihn auf. Lucifer zog seine eigene Kleidung aus, um seinen Bruder reinzustecken. Er stopfte ihn in den Mantel. In die Hose. In Schuhe und Maske.

Niemand durfte Michael erkennen!

Er selbst fühlte sich nackt. Außer Socken, Boxern und Oberteil, musste er seine gesamte Kleidung an sein Dornröschen abtreten. Einzig seinen Revolver hatte er noch schnell aus der Manteltasche gefischt. Dann schob er Michael in den Rollstuhl.

Der Ersatzwaffe traute er eh nicht und er hatte keine Möglichkeit, sie sicher zu transportieren. Nicht, wenn er nebenbei eine Hand benötigen würde.

Die Polizistin wies auf seine Beine und zog eine Augenbraue hoch.

Hast du ne bessere Idee?, formte er mit den Lippen.

Sie runzelte die Stirn. Dann wies sie auf den Schrank neben Michaels Bett.

Aber sein Bruder würde dort nichts aufbewahren. Nein. Er war ja durch einen Unfall hierher gekommen. Niemand hatte ihm eine Reisetasche gepackt und ihn hier behütet. Er-

Kopfschüttelnd sah Lucifer dennoch nach und fand Kims Sachen vor. Da war ihre Messersammlung. Ihre Jacke. Ihre Wechselkleidung!

Aber sie würde ihm nicht passen.

Als er den Schrank wieder schließen wollte, stach ihm eine Pillendose ins Auge. Vorsichtig zog er sie heraus. Drehte sie in den Händen.

Drop Thee.

Hatte Kim sie deswegen verraten? Wegen der Drogen? Aber … Hätte er es dann nicht bemerken sollen? War es schlussendlich doch seine Schuld? Hätte er besser auf seine Partnerin aufpassen sollen? Hätte er es überhaupt gekonnt? Nein. Er hätte es geschafft. Er hatte ihr vertraut! Er hatte ihr alles anvertraut! Sie hatte Dinge gewusst, die er nicht mal Michael sagen konnte … Sie …

Sie hatte ihre Wahl getroffen, oder nicht?

Die Dose knirschte zwischen seinen Fingern und erschrocken bemerkte er, dass er erneut seine Hände geballt hatte. Die Waffe in seinen Fingern zitterte. Er atmete tief durch.

Sah zu Michael.

Geht, formten seine Lippen tonlos.

Die Polizistin sah ihn unsicher an. Dann nickte sie langsam. Sie löste die Bremsen des Rollstuhls. Platzierte Michaels Kopf auf dessen Faust. Als würde er nachdenken. Zuletzt beäugte sie Lucifer noch ein letztes Mal, als er es sich gerade in Michaels Bett bequem machte und die Geräuschkulisse der Maschinen ausschaltete.

Auf ein stummes Zeichen hin fuhr sie den schläfrigen Patienten hinaus. Sie meckerte draußen einige der Patienten an. Karrte sich einen Weg frei. Brachte Michael in Sicherheit.

Und Lucifer beobachtete, wie Kim zurück ins Zimmer kam.

Sie blickte nur flüchtig durch den Raum. Stockte. Sah zu ihm herüber. Zu der Waffe, die er auf sie gerichtet hielt.

Langsam schloss sie die Tür.

„Das hättet ihr nicht tun sollen“, grüßte sie ihn leise.

„Und du?“, er präsentierte ihr die gefundene Pillendose.

Kim lächelte ihn an.

„Ich dachte, er braucht was, um ruhig zu bleiben“, erklärte sie viel zu freundlich, „Wie soll ich ihm sonst die schlechten Nachrichten überbringen? Dass seine ganze Familie des Todes ist? Dass er all das einem eifersüchtigen Bruder zu verdanken hat? Dass er-“

„Lass. Michael. In. Ruhe!“, er spuckte ihr entgegen.

Sie lächelte herzlich.

Sie lächelte kalt.

„Hm? Bei Niklas würde er zumindest überleben. Wenn ihr ihn allerdings mitnehmt- Na ja. Er hat mir ziemlich deutlich gemacht, wie viel der Moralapostel in euren Händen noch wert ist.“

Lucifer bemerkte, wie er zitterte. Seine Wut überkam ihn. Er wollte aufspringen. Sich auf sie stürzen. Sein Revolver war ihm zu unpersönlich. Er wollte-

Sie war schneller als er. Nicht stärker. Aber schneller. Und sie hatte Verstärkung auf dem Flur. Sie … Sie durfte nicht weiter unter seine Haut kriechen!

„Du wirst Michael nicht anrühren“, er setzte sich gezwungen langsam auf, „Keiner von Niklas‘ Leuten.“

„Wie du meinst“, sie zuckte mit den Schultern.

Dann blitzte plötzlich eine Klinge in ihren Händen auf und sie warf sie direkt auf Lucifers Revolver.

Es klirrte. Der Lauf wurde zur Seite gedrückt. Ein Schuss löste sich. Lucifer fluchte. Er wollte ihr eine Kugel verpassen, doch war sie bereits nach draußen geflohen und riss die Tür hinter sich zu.

Hastig setzte er zur Verfolgung an. Dann schaltete sich sein Verstand ein. Er beäugte den Raum.

Gleich würde die Kavallerie über ihn herfallen. Allerdings würde Kim nicht unter ihnen sein. Nein. Sie würde sich Michael vornehmen wollen. Und das durfte Lucifer nicht zulassen!

Er musste seinen Bruder doch beschützen …

Hastig ging er seine Optionen durch. Das Fenster sprang ihn ins Auge. Jedoch-

Nein. Es war, wie Jen gesagt hatte. Er musste umdenken. Draußen wäre er eh zu offensichtlich unterwegs. Er-

Er besah die Wände.

Eine sah anders als die anderen aus. Irgendwie heller. Ja. Kein Wunder. Waren das hier früher nicht Doppelzimmer gewesen? Und bei dem wenigen Geld, das die Krankenhäuser verwalten durften-

Lucifer griff nach dem Stuhl und hämmerte damit gegen die Wand. Schon nach dem ersten Hieb sackte sie weg. Der Raum dahinter stank nach Zigarettenqualm. Im Bett lag ein geschockter Junge. Zitternd zeigte er auf seinen neuen Besucher.

Definitiv keiner von Niklas‘ Leuten.

„Hi, bye“, bemerkte Lucifer schroff und eilte zur Tür.

Die anderen stürzten sich gerade in den Raum nebenan. Gleich würden sie hierher kommen.

Jeder Augenblick zählte.

Entschlossen stürzte er nach draußen. Er erschoss einen Mann, der gerade bewaffnet aus einem Patientenraum kam. Seine Augen huschten über die anderen Personen. Peilten die Lage.

Am anderen Ende des Flurs konnte er Dr. Devison II ausmachen. Neben ihm eine Frau mit Kind, hinter der sich der Feigling versteckte. Etwas zog Lucifer in die Richtung. Er eilte vorwärts – an Michaels Raum vorbei in die andere Richtung und-

Schräg vor ihm richteten sich kalte Augen auf ihn. Kalte Augen, die eine Pistole befehligten-

Lucifer sprang durch die nächstbeste Tür auf der anderen Seite des Flurs.

Ein alter Mann saß auf dem Bett. Sein linker Arm stoppte am Ellenbogen. Die Augen starrten ausdruckslos ins Leere.

Lucifer schluckte.

Er hasste Krankenhäuser.

„Verzeihung …“, er zog sich die Hose des Mannes vom Stuhl und schlüpfte hinein. Eine kleine Tat, die ihn mehr beruhigte, als seine Waffe. Immerhin fühlte er sich nun nicht mehr so verletzlich.

Sein Blick glitt erneut zu den Fenstern.

Er wandte sich ruckartig ab.

Laut Raumplan neben der Tür befand er sich hier in Zimmer 273. Zwei Türen weiter war die nächste Treppe eingezeichnet. Jedoch würde sie bestimmt bewacht werden. Der Fahrstuhl wäre auch gestrichen. Immerhin wusste er nicht, ob Niklas ihn beeinflussen konnte. Und alles auf eine Karte zu setzen, erschien ihm etwas sehr gewagt. Nein. Besser wäre-

Er fluchte innerlich. Aber es musste wohl sein.

Sicher schoss er zweimal auf die kalten Augen, die ihn in diesen Raum gejagt hatten und schlüpfte sofort in ein Zimmer auf der anderen Seite des Flurs. Er trat die Tür zur Essenverteilstation auf. Überflog die Einrichtung. Riss ein Regal vor die aufgebrochene Tür. Musste an Mamorlöwen denken. An Mamorlöwen und ein brennendes Haus-

Ein Déjà-vu überkam ihn.

Hastig wandte er sich ab und öffnete die Tür zum Versorgungsfahrstuhl. Er besann sich auf das Hier und Jetzt. Auf Michael. Auf die Kinder.

Erst danach begutachtete er den uralten Lift. Die Seile wirkten nicht sonderlich stabil, allerdings bestanden die Wände aus altem Mauerwerk. Es sollte also funktionieren. Es musste funktionieren!

Vorsichtig, aber dennoch schnell, quetschte er sich hinein und kletterte hinunter. Es war mehr ein Fallen als Klettern. Jedoch erreichte er die nächste Tür ungesehen und vor allem unbeschadet.

Ob sie ihn oben in einem der anderen Räume vermuteten? Oder das Zimmer gerade stürmten? Was, wenn sie ihn ignorierten und stattdessen gerade die Polizistin mit seinem Bruder verfolgten? Wie gut könnte sie Michael beschützen? Würde sie Michael überhaupt beschützen?

Seine Bewegungen wurden hastiger.

Wie lange würde es dauern, bis Kim sie fand?

Eilig kroch Lucifer in den anliegenden Raum und brach die Tür zum Flur auf. Er musste weiter! Blind vor Sorge hetzte er die Gänge entlang. Zwei Leute stellten sich ihm in den Weg. Sie zückten ihre Waffen-

Polizisten, erkannte er, als sie seinetwegen am Boden lagen. Seine Waffe war leer. Dennoch behielt er sie in der Hand und hetzte weiter. Seine restliche Munition befand sich bei Michael. Und zu Michael musste er eh. Er … Er musste es schon irgendwie schaffen. Er musste!

Schlitternd kam er in der Rettungsstelle zum Stehen. Verstört sah ihn ein kleines Mädchen an. Sie klammerte sich ängstlich an ihre Mutter. Ihre Mutter, die das winzige Ding zitternd in die Arme nahm. Die Abstand zu Lucifer suchte.

Hastig wandte er sich ab. Wieder musste er an die Kinder denken. Ein Teil von ihm wollte keine Horrorfigur für andere sein. Er-

Er erblickte die Polizistin mit Michael am Ausgang.

Erleichtert atmete er auf. Diese Sissy hatte sich zu ihnen gesellt. Sie wirkten in ihre Arbeit vertieft. Als würden sie hierher gehören und hätten schon dutzende Male-

Kim.

Obwohl sie mit dem Rücken zu ihm stand, sprang sie ihm sofort ins Auge. Ein Messer blitzte in ihrer Hand auf. Allerdings … Wäre es für eine der Frauen gewesen, hätte sie es einfach geworfen. Nein. Sie versuchte, sich seitlich vorbei zu schieben. Seitlich … Damit sie besser zielen konnte …

Erschrocken hastete Lucifer voran. Er warf seine ehemalige Partnerin um. Rang sie zu Boden. Keuchte. Irgendjemand schrie. Menschen rannten durcheinander. Kims Klinge kratzte seine Seite. Allerdings war es nur eine Fleischwunde. Nichts Ernstes. Nichts-

Ihm war, als wollte sie ihn nicht verletzen. Als wäre er noch immer-

Sie … Sie wurde zu alledem nur gezwungen. Sie hat ihren Bruder verloren, schoss es ihm ungefragt durch den Kopf.

Sein Griff lockerte sich.

Sie riss sich los.

„Du gibst nie auf, oder? Es ist vorbei“, erklärte sie, als eine neue Hektik hinter ihr ausbrach – nun schrien die Leute von bewaffneten Männern, „Luz. Es ist vorbei.“

Mit quietschenden Reifen hielt ein Krankenwagen in der Einfahrt. Lucifer riskierte einen Blick hinüber. Er erkannte Jen im Seitenspiegel und atmete erleichtert auf.

„Nein“, er blieb vor den Frauen stehen, als diese Michael hinten reinzerrten, „Ich werde meine Familie beschützen.“

Ihre Augen pressten sich zusammen.

„Lucifer!“, er folgte dem Ruf der Polizistin. Drehte sich um, sorgte sich plötzlich nicht mehr um Kim.

Sie war seine Partnerin gewesen. Ihr Herz war am rechten Fleck. Sie würde nie-

„Sorry. Aber dem kann ich nicht nachkommen“, die Kälte ließ ihn innehalten. Das Messer glänzte wie aus dem Nichts auf. Es blitzte. Flog auf ihn zu. Flog über seinen Ko-

In einem Anflug aus Dummheit sprang er hoch. Schmerzen explodierten in seinem Gesicht. Seine Sicht verschwamm. Sie war nur noch zur Hälfte da. Die andere Hälfte … Rauschen. Etwas … Nein. Jemand zog an ihm. Er-

„Stillhalten!“, die Polizistin war plötzlich da. Er erkannte das Innenleben des Rettungswagens. Michael. Michael saß neben ihm. Monas Ärztin band ihn gerade fest. Sein Kopf kippte schwach mit den Kurven umher. Draußen knallte etwas. Ein Ruck ging durch den Wagen. Jen rief etwas von vorne.

„Keine Ahnung. Es steckt in seinem Auge!“, schrie die Polizistin zurück, ihr Griff hielt ihn sicher. Es war einer, mit dem man Verwundete zerrte, erkannte Lucifer verschwommen. Und die Waffe in ihrer Hand-

Hatte sie Kim in Schach gehalten und ihn in den Rettungswagen geschliffen?

Ihm wurde zu schummrig. Seine Hand wollte nach seinem tauben Auge tasten. Taub? Nein … Blind!

Dann war die Ärztin da. Sie schob die Polizistin zur Seite. Murmelte irgendetwas. Gemeinsam hantierten sie an ihm rum und Lucifer fand es nicht in sich, sie von sich zu stoßen.

Doch trotz all ihrer Mühen konnten sie sein linkes Auge dennoch nicht mehr retten.

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