
Mit geschlossenen Augen saß Borei unter der Treppe und lauschte den hastigen Schritten. Die Waisen waren alle so unbedacht, so sorglos geworden. Erst hatte er es befremdlich gefunden. Doch nun? Mittlerweile hatte er ihre Naivität zu schätzen gelernt. Sie beruhigte ihn.
„Du sagst, sie kommt nächste Woche wieder. Fieber“, hörte er die Betreuerin den Nachzügler belehren.
„Ist gut. Aber du richtest ihr eine gute Besserung von mir aus, ja?“
„Ja, doch“, sie klang genervt, „Na los! Du kommst sonst wieder zu spät, Nik!“
Damit hetzten die letzten Schritte an seinem Versteck vorbei.
„Sie ist aber sonst nicht krank …“
Wäre Borei ein Mensch gewesen, hätte er Niklas‘ kindliches Meckern nicht vernommen. So konnte er sich jedoch über die kindliche Stimme amüsieren. Er selbst kannte den Waisen, seitdem dieser vor ihrer Tür abgelegt worden war. Damals hatte er geholfen, die Windeln zu wechseln, ihn zum Laufen zu animieren und so unendlich viele Karotten püriert, bis ihm davon schlecht war. Er wusste, dass der Junge stets erwachsen sein wollte. Er wusste, warum er wie verrückt lernte.
Und er wusste, dass er diesen kindlichen Tonfall nicht mehr oft hören würde.
„Bist du da, Borei?“, fragte eine andere Stimme in den Flur.
Das geisterhafte Wesen öffnete seine roten Augen. Er blickte zu dem kleinen Mädchen herüber, das ihn direkt ansah. Lisa. Das jüngste Waisenkind. Sie hatte ihn letztes Jahr einmal lachen gehört und hielt ihn seither für einen Fantasiefreund. Nur deswegen schaute er sie so unverfroren an.
Denn nur wenn er die Lider hob, konnte man seine Augen sehen.
Denn diese waren als einziges sichtbar.
„Was machst du hier?“, entgegnete er leise.
Furchtlos kauerte sie sich neben ihn unter die Treppe.
„Mag ist krank und Mama kümmert sich um sie. Mir ist langweilig“, murrte sie sofort, „Kannst du nicht mit mir spielen? Bitte!“
Glucksend schüttelte Borei den Kopf. Er hatte eine Aufgabe zu erfüllen. Er musste den Frieden des Waisenhauses wahren. Dazu gehörten Kinder wie Niklas und Lisa.
Oder Maggie.
„Mal‘ doch was“, schlug er vor, während er schon wieder ins Haus lauschte.
„Das ist mir zu langweilig. Ich möchte lieber Zukunftstürme mit dir bauen. Bitte! Du bist so gut darin“, quengelte das Mädchen.
Borei seufzte. Eigentlich hatte er keine Lust, aber wenn sie im Garten blieben, würde er seinen Posten theoretisch nicht verlassen, oder? Außerdem tat ihm das Kind leid. Lisa blieb immer allein zurück, wenn die anderen in die Schule gingen. Er konnte die Einsamkeit in ihren Augen sehen. Dasselbe Gefühl, das auch ihn nachts heimsuchte, sobald er sich verloren glaubte.
„Wir bleiben vor der Haustür, keine Abstecher auf die Straße oder in den Wald, ja?“
Sie nickte eifrig.
„Na gut“, willigte er leise ein.
Jubelnd rannte sie hinaus. Die nackigen Füße patschten auf den Holzboden. Sie waren so laut. So-
Borei erstarrte, als er eine Stimme vernahm. Doch es war nur die Betreuerin. Sie belehrte Maggie gerade. Maggie …
Er glaubte nicht, dass ihr körperlich etwas fehlte. Sie hatte die Gaben einer Heilerin, verdammt! Irgendetwas war da doch im Busch. Ob Janine mehr wusste? Oder zumindest ahnte? Sie war vorhin so eilig aufgebrochen. Wohin, hatte sie nicht verraten. Wann sie wohl zurückkäme?
Nachdenklich vertrieb er sich den Vormittag mit Lisa. Er konnte draußen eh nicht viel sprechen. Nicht, solange die Fenster offen waren. Wenn Maggie ihn hörte, würde es Fragen hageln. Fragen, die er nicht beantworten wollte. Deswegen stapelte er die umliegenden Steine nur stumm übereinander. Er hielt seinen Zukunftsturm klein. Immerhin war Lisa nicht sonderlich gut darin. Wenn er es übertrieb, würde es auffallen und-
Ein Gefühl ließ ihn innehalten und eilig schloss er die Augen. Da waren Schritte. Leise Schritte. Sie sprachen von Erfahrung. Von-
„Menno!“, beschwerte sich Lisa gerade, „Ich will es auch so gut hinbekommen, wie du, Bo- Oh. Hallo!“
Eine stille Furcht schlich sich in ihre Stimme. Oder bildete sich Borei das nur ein? Sanft strich er über ihren Rücken. Er wollte ihr Mut schenken. Kraft.
Und augenblicklich entspannte sie sich.
„Du … spielst draußen?“, fragte der Besucher.
Borei verbat sich ein Grinsen. Er kannte den Gast. Janine hatte ihn den Jungen über die letzten Tage beschatten lassen. Sie hatte ihn einschätzen wollen. Wissen wollen, wie ihr eigener Cousin tickte, ehe sie sich ihm offenbarte.
Lisa unterbrach die Erinnerungen mit ihrer hellen Stimme: „Ja! Aber ich bin ja nicht allein. Ich habe ganz viele Freunde, die mich immer besuchen kommen. Die sind richtig toll!“
„Aha … Maggie da?“
Borei verkrampfte sich. Er hörte die Antwort des Waisenkindes kaum. Zu viele Sorgen schossen durch seinen Kopf.
Was wollte der Junge hier? Sollte er Janine holen? Nein. Sie durfte sich hier nicht sehen lassen. Noch nicht. Offiziell würde sie erst mit den alten Waisen anreisen. Aber konnte er den Jungen gewähren lassen? Er war eine Gefahr!
Unschlüssig schwebte Borei rückwärts ins Haus und blickte durch das nächste Fenster nach draußen. Hinter den kaputten Scheiben sollte man seine Augen nicht bemerken. So konnte er die Körpersprache des Besuchers beobachten. Er hörte, wie die Betreuerin sich nach dem Gast erkundigte. Dann Poltern.
Ehe Borei sich versah, öffnete Maggie die Haustür. Er konnte sie nicht sehen. Nur hören. Sie ließ den anderen rein. Ein Wesen, das einst ihr Erzfeind gewesen wäre.
Still lauschte er in den Flur.
„Ich hätte nicht gedacht, dass du vorbeikommst …“, Maggies restliche Worte gingen im großen Haus verloren, als sie in ihrem Zimmer verschwanden.
Ungeduldig verharrte das geisterhafte Wesen.
Er sollte den Frieden wahren. Auf die anderen Kinder aufpassen. Die Stellung halten!
Aber was, wenn eines der Kinder ihren potentiellen Mörder empfing? Er hatte Janine versprochen, sich nur im Notfall zu zeigen. Doch war es ein Notfall, wenn Maggie so ruhig blieb? Obwohl der Junge es auf die Steckbriefe der Gegenseite geschafft hatte? Für diesen Fall war er nicht vorbereitet! Das Waisenhaus lag nicht grundlos in Shizens Gebiet. Hier herrschten die Kreaturen des umliegenden Waldes! Wie war der Besucher überhaupt unbeschadet hindurch gekommen?!
Hastig traf er seine Wahl und blinzelte sich in die Küche.
Die Betreuerin stand am Herd. Meckernd drehte sie an den Knäufen vom Herd herum. Vor ihr stand eine Pfanne, aus der das Öl in alle Richtungen spritzte.
Borei streckte seinen Körper aus. Es war nur eine dünne Schicht, dennoch hielt sie das kochende Öl von der Frau fern. Er selbst verspürte keinen Schmerz, als die Tropfen ihn trafen. Dafür war sein Körper zu unwirklich. Zu nicht-existent. Solange es seinen Augen gut ging, würde er keine Pein spüren.
„Was machst du hier?“, sie sah nicht mal auf, „Ich dachte, du spielst mit Lisa.“
„Er ist hier.“
Die Frau zuckte zusammen. Viel zu langsam griff sie nach einem Messer und schnitt eine Karotte klein. Dabei wirkten ihre Bewegungen ruckartig.
Sie wusste, wen Borei meinte.
Und sie wusste, wo ihr Besuch war.
„Er würde ihr nichts tun“, beharrte sie.
„Du kennst ihn als kleinen Jungen. Ich von den Flugblättern. Was ist wohl zeitgemäßer?“, forderte er sie dennoch heraus.
Endlich drehte sie sich um. Ihre Augen glitzerten. Er erblickte Hoffnung darin. Hoffnung und Angst.
Sie kannte die Wahrheit.
„Was willst du?“
Obwohl er sich unsicher fühlte, spielte er es herunter. Er gab sich uninteressiert. Albern.
Es ging nicht darum, was er wollte.
Es ging darum, was sie wollte.
„Das Haus obliegt deiner Zuständigkeit“, erklärte er.
Damit setzte er sich unter die Treppe und wartete.
Er lauschte, wie der Junge Maggies Zimmer verließ.
Er lauschte, wie die Betreuerin ihn abfing.
Er lauschte, wie sie ihm drohte und sich anschließend unwissend gab.
Aber sie hatte seinen wahren Namen benutzt. Sie hatte seine Aufmerksamkeit erregt. Und sie hatte ihn in seine Schranken gewiesen.
Erleichtert sackte Borei in sich zusammen, als der Junge sich noch im Flur fortblinzelte.