
Man hatte Mira in den Wald gejagt. An dem Tag, an dem ihr kleiner Bruder seinen ersten Namenstag feierte, hatte ihr Vater sie ausgestoßen. Sie wäre nun nichts mehr wert. Ihr Bruder hätte das erste Jahr ja gemeistert. Er konnte bereits laufen. Die ersten Worte sprechen. Er war vielversprechend!
Vielversprechender als sie. Sie war ja nur ein Mund zu viel, den ihre Eltern stopfen mussten.
Mira hatte nichts mitnehmen dürfen. Einzig der Lumpen namens Kleidung war ihr geblieben. Aber der war eh mehr Deko als Kälteschutz. Die richtige Kleidung, das Essen, ihre Eltern gehörten ihrem Bruder.
Dem besseren Kind.
Schluchzend stolperte sie über eine Wurzel und taumelte ins Unterholz. Die Gräser hier waren noch feucht vom Tau. Feucht und kalt. Doch Mira spürte die Kälte nicht. Sie war das Zittern gewohnt. Sie war die Einsamkeit in ihrem Herzen gewohnt. Dieses Gefühl, nicht erwünscht zu sein …
„Wäre ich nur ein Junge“, flüsterte sie und wandte sich vom Pfad ab.
Er würde sie sonst eh nur in ein anderes Dorf führen. Dort würde man sie gewiss auch nicht willkommen heißen. Warum auch? Sie konnte nichts bieten. Sie war nur ein Kind. Nur eine Last. Niemand würde Mira bei sich haben wollen.
Niemand …
Deswegen sollte sie sich auch niemandem aufzwingen, oder?
Im Selbstmitleid versunken, achtete sie nicht mehr auf den Boden. Die Sonne lenkte sie ab. Diese hellen Strahlen, die nun plötzlich durch das sonst so dichte Blätterdach brachen. Sie blendeten sie. Sie wärmten sie. Sie-
Plötzlich traten ihre Füße ins Leere. Der Boden fehlte. Er war nicht mehr da! Sie war auf eine Klippe zugelaufen. Eine Klippe, von der sie nun krachend herunter stürzte.
Vielleicht hätte sich Mira eher den Tod wünschen sollen?
Noch während der Abschiedsgedanke durch ihre Gedanken geisterte, fühlte sich ihr Körper so leicht, nein, so schwerelos an. Es war, als wäre sie nur eine Brise im Wind. Nur eine Wolke, die-
„SPINNST DU?!“, schrie jemand sie an, sodass die Spucke auf ihren Lumpen und ihrem Gesicht landete.
Blinzelnd starrte sie in die gelben Augen. Dann auf die schwarzen Federn. Und zuletzt nach unten. Auf den Boden. Der Boden, über dem sie schwebte. Der Boden, der ein Vorsprung der Klippe war.
Der Boden, auf dem ein Nest mit Eiern ruhte.
Moment. Sie schwebte?
„Wie ist-“, zornige Augen schoben sich näher vor sie, „Ich-“
„Ja! Du! Wolltest du meine Kinder zerquetschen, ehe sie überhaupt geschlüpft sind, oder was?!“
Hastig schüttelte Mira den Kopf. Sie hatte gehört, dass einige Tiere sprechen konnten. Naturwesen, die den Wald hüteten. Jedoch hatte das Mädchen bislang keines davon getroffen. Sie hatte sie für Märchen gehalten. Für Spukgeschichten!
„Kannst dich wohl immer noch nicht entschuldigen, hm? Oder zumindest bedanken? Ohne mich hätte dir der Sturz das Genick gebrochen!“, schrie sie der Vogel weiter an.
Mira zuckte zusammen und endlich schien der riesige Rabe sich etwas zu beruhigen. Ungehalten zuckte der Kopf zur Seite und schon schwebte das Mädchen sanft neben dem Nest auf den Vorsprung. Der Felsen unter ihren Fingern kribbelte vor Wärme. Ungläubig starrte Mira herab.
Sonst waren Steine immer nur kalt.
Klackernd landete der pechschwarze Vogel neben dem Nest und schaute nach den Eiern. Sie waren je so groß wie Miras Kopf. So große Eier hatte sie noch nie gesehen.
Aber sie hatte auch noch nie einen Raben gesehen, der so groß wie ihre einstige Mutter war.
„Verzeihung“, murmelte Mira, „Ich wusste nicht … Ich meine …“
„Hm…“, der Rabe klang nun sanfter, fast schon liebevoll, „Du bist klein. Seid ihr Nacktaffen sonst nicht größer? Wie alt bist du?“
Miras Magen zog sich zusammen.
„Ich bin fünf“, offenbarte sie leise, „Ich-“
„EIN KIND?!“, schrillte der Vogel wieder, „Ist deine Art denn von Sinnen? Und dann allein hier draußen unterwegs … Wo sind deine Eltern?!“
Zitternd brach Mira zusammen. Sie sehnte sich nach einer liebevollen Umarmung. Nach ihrer Mama. Nach ihrem Papa! Sie hatte gesehen, wie sehr sich ihre Eltern um ihren Bruder gesorgt hatten. Wie viel sie getan hatten-
Was sie nie für Mira getan hätten …
War es falsch, sich dasselbe zu wünschen? Liebe? Zuneigung? Nur ein Fünkchen Wärme?
„Ich- Sie-“, die Tränen kullerten ungefragt heraus, „Ich soll nicht- Ich meine- Ich wollte nur-“
„Shhh… Mach langsam, Kleines. Immer langsam …“
Sanft bugsierte der riesige Vogel sie in sein Nest und drückte sie zwischen die Eier. Er deckte sie mit dem Flausch zwischen den Ästen zu. Schmierte seinen Kopf gegen ihren und gurrte still.
Ganz so, als würde er sie auch so verstehen …