B: Reingelegt? I

„Bis nachher“, flüsterte Oliver ihr zu und drückte Liane kurz an sich.

„Treffen wir uns wieder vor der Bibliothek?“

„Hm, ich dachte-“

„Dass ihr Turteltäubchen schon spät dran seid“, unterbrach Shiloh mit wedelnden Händen, „Na los. Das ist nicht deine Klasse.“

„Jawohl“, lachend eilte Oliver den Gang runter. Liane beobachtete ihn noch einen Moment, ehe sie sich ihrer Freundin zuwandte. Nur war diese bereits auf dem Weg zu ihrem Tisch.

„Sind wir so schlimm?“, erkundigte sie sich zaghaft.

Die Frage musste einfach raus. Sie selbst konnte es nicht einschätzen. Das hier war ihre erste Beziehung, verflixt nochmal! Ging es zu schnell? Zu langsam? War es zu intensiv? Zu flach? Sobald Oliver nicht mehr bei ihr war, schlichen sich die Selbstzweifel an-

-und verschmolzen den Talisman mit ihrer Hand.

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Märchenstunde: Miras zweites Leben I

Man hatte Mira in den Wald gejagt. An dem Tag, an dem ihr kleiner Bruder seinen ersten Namenstag feierte, hatte ihr Vater sie ausgestoßen. Sie wäre nun nichts mehr wert. Ihr Bruder hätte das erste Jahr ja gemeistert. Er konnte bereits laufen. Die ersten Worte sprechen. Er war vielversprechend!

Vielversprechender als sie. Sie war ja nur ein Mund zu viel, den ihre Eltern stopfen mussten.

Mira hatte nichts mitnehmen dürfen. Einzig der Lumpen namens Kleidung war ihr geblieben. Aber der war eh mehr Deko als Kälteschutz. Die richtige Kleidung, das Essen, ihre Eltern gehörten ihrem Bruder.

Dem besseren Kind.

Schluchzend stolperte sie über eine Wurzel und taumelte ins Unterholz. Die Gräser hier waren noch feucht vom Tau. Feucht und kalt. Doch Mira spürte die Kälte nicht. Sie war das Zittern gewohnt. Sie war die Einsamkeit in ihrem Herzen gewohnt. Dieses Gefühl, nicht erwünscht zu sein …

„Wäre ich nur ein Junge“, flüsterte sie und wandte sich vom Pfad ab.

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Timothy – In grauen Augen …

Fast zehn Jahre wachte ich über Jane. Ich beobachtete, wie der Exorzist sich von ihr verabschiedete. Ich blieb bei ihr, als ihr Vater im darauffolgenden Winter an einem Husten verstarb. Und ich folgte ihr wie ein Schatten, als ein altes Ehepärchen aus dem Dorf sie aufnahm.

Dennoch konnte sie mich nicht sehen.

Manchmal glaubte ich, dass sie meine Anwesenheit spüren musste. Dass sie bemerkte, wie ich hilflos die Hand nach ihr ausstrecken wollte. Sie hielt dann immer ganz kurz inne. Sie schien etwas sagen zu wollen. Sich zu entspannen. Sich in meine Richtung zu lehnen.

Nur um dann weiter zu machen.

Ich war zu einem vergessenen Traum verkommen.

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B: Konsequenzen

Chem Wak begutachtete das Haus unruhig. Es würde nie seinen Geschmack treffen, doch das musste es ja auch nicht. Es war nicht seines …

Ein Fenster im ersten Stock wurde geöffnet. Er konnte Umrisse dahinter ausmachen. Ein Mädchen. Allein.

Sachte klopfte er gegen den Beifahrersitz und sofort setzte sich das Auto in Bewegung.

Es war noch nicht soweit.

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M: Zusammenhalt I

Zittrig presste Diana ihre Beine enger gegen ihren Oberkörper. Sie wollte in Ruhe gelassen werden. Wollte nichts mehr sehen. Nichts mehr hören. Nicht mehr-

„Diana! Mach auf!“, brüllte ihre Mutter hinter der verschlossenen Zimmertür.

Das Mädchen ignorierte sie.

Diese Frau wollte eh nur mit ihr meckern. Genau. Immerhin hatte Diana es ja gewagt, im letzten Mathetest nicht die volle Punktzahl zu erreichen! Wie konnte sie es nur wagen?! Sie musste doch perfekt sein! Immerzu perfekt sein! Perfekt, perfekt, perfekt, per-

Die Tränen verklebten ihre Augen und eilig wischte sie das Wasser weg. Sie starrte auf das Familienfoto neben ihrem Wecker. Da, auf der rechten Seite, stand sie. Mit ihren Eltern. Ihre Großmutter stand hinter dem einzigen Stuhl, auf dem der Diktator von einem Großvater saß. Links von ihm befanden sich Dianas Onkel. Dianas Tante. Rachel …

Rachel …

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