
„Guten Abend, Mrs. Strom. Sie wollten mich sprechen?“, grüßte der Klassenlehrer ihrer Zwillinge und streckte ihr die Hand entgegen.
Er war groß, mit Speckfalten am Bauch und einem lichten Kopf versehen. Bestimmt würde er auch die letzten Haare nicht mehr lange behalten. Ob er deswegen immer diese abscheulichen Wollpullover trug? Sie waren immerhin genauso fusselig wie fünf normale Köpfe.
„Ja“, Jane machte es sich unaufgefordert auf dem Sofa im Lehrerzimmer bequem, „Es geht um Ihr Kurrikulum.“
Mr. Flemming ließ seinen Arm sinken: „Wie bitte?“
„Ihr Kurrikulum. Der Lehrplan. Was Sie mit den Kindern durchnehmen, Himmel hoch drei“, sie legte den besagten Plan auf den Tisch, „Das hier.“
Der Lehrer warf nur einen flüchtigen Blick auf das Deckblatt des riesigen Buches. Gewiss hatte er das dicke Teil im Studium lesen müssen. Es war immerhin der Plan für ganz Suderien. Darin war der Unterricht aller Kinder geregelt: Von Einschulung bis Abschluss. Jedoch war es sehr wirr geschrieben, da es unendlich viele Kreuzverweise gab. Außerdem wurden die einzelnen Themen nirgends erläutert. Es gab nur Kerndefinitionen, Lernziele und Kompetenzen.
Die Umsetzung sollten sich die Lehrkräfte selbst aus dem Hut zaubern.
Noch ehe Marie und Sophie in die Schule kamen, hatte Jane sich den Wälzer besorgt. Offiziell hatte sie Interesse am Unterricht ihrer Kinder verkündet. Inoffiziell hatte sie einfach selbst etwas Normalität erhaschen wollen. Es war ihr gutes Recht! Über Jahre hatte Janes Vater ihr täglich den Besuch an einer öffentlichen Schule verboten. Monas Unterricht wäre eh besser. Er wäre praktischer.
Deswegen hatte sie nicht einmal in Erwägung gezogen, dass sich die Kinder im kommenden Schuljahr an einer Eigenrecherche versuchen sollten. Es war ein Projekt, das sich um die Herkunft drehte. Dabei sollte die Schülerschaft ihre Vergangenheit auf den Kopf stellen und den Spuren ihrer Familie folgen. Es war eine halbe Ahnensuche!
Eine, an der weder Marie noch Sophie teilnehmen durften.
„Tut mir leid, Mrs. Strom. Eltern haben kein Mitspracherecht in-“
Jane zog eine Augenbraue hoch. Mehr brauchte es nicht, damit der Mann vor ihr unruhig wurde. Dieser nervig-gutmütige Mr. Flemming, den sie vor ihrem Besuch einmal durchleuchtet hatte.
Jeder hatte irgendwo Dreck zu stecken.
„Mitspracherecht? Keine Sorge. Ich möchte kein Mitspracherecht in diesem Thema haben“, erklärte sie, während sie die Seite mit der Eigenrecherche aufschlug und freundlich abwank, „Ich möchte, dass Sie das Thema aus Ihrem Unterricht streichen.“
„Mrs. Strom, so etwas ist unmöglich,“ er blickte nicht einmal auf die aufgeschlagene Seite, „Diese Themenkataloge sind vorgeschrieben und ein Bestandteil unserer pädagogischen Arbeit. Die Kinder brauchen jedes einzelne davon, um eine gesunde Entwicklung zu durchlaufen, die-“
„Paragraph 53, Absatz 3 unserer Verfassung ist Ihnen nicht unbekannt, oder?“, unterbrach Jane das Gelaber immer noch lächelnd.
„Verzeihung?“
„Nein? Nun, der Paragraph selbst wird in Diskriminierungsfällen gerne herangezogen. Dabei bezieht sich der dritte Absatz auf die Herkunft und wird – nach strenger Auslegung – in einem Ort wie Raptioville verletzt, solange diese Recherche im selben Umfang von Kindern erwartet wird, die nicht hier geboren wurden, da die Digitalisierung der Schule keine ausreichende Informationsanreicherung zulässt. Von daher muss ich Sie leider bitten, Ihren Unterricht anzupassen.“
In Merichaven hätte man sofort auf sie gehört. In Merichaven hätte man die gefürchtete Radius in ihren Augen erkannt. In Merichaven hätte dieser Mr. Flemming keine Widerworte gedacht!
Hier in Raptioville schienen die Menschen die wahre Gefahr jedoch nicht mehr spüren zu wollen.
„Wie ich bereits sagte, kann ich nichts für Sie tun. Wenn Sie eine Verletzung der Verfassung sehen, tragen Sie Ihr Anliegen bitte dem zuständigen Schulamt vor. Wenn Sie nun bitte nicht mehr meine Zeit verschwenden mögen“, er wies zur Tür.
Jane blieb starr sitzen. Einen Moment haderte sie mit sich. Dann kam die Entspannung. Sie schickte ihren Zorn fort. Lächelte. Es war nicht mehr das Lächeln von Mrs. Strom. Sie war wieder Radius. Die kaltherzige Seele, die bekam, was sie wollte.
Möge der Preis auch noch so hoch sein.
„Wie Sie meinen“, sie las das Buch auf und strich zärtlich über die Seiten, „Ihre Tochter hat übrigens ein sehr hübsches Zimmer. Haben Sie die Katzen an die Wand gemalt? Oder Ihre tote Frau?“
„Bitte?“, Mr. Flemming schaute überrascht auf.
„Sie sollten aber aufpassen, solche Bilder können zu leicht ausbleichen. Oder gar von Vandalismus beschädigt werden. Wird das in Ihrer Hausratversicherung eigentlich abgedeckt?“, fragte sie weiter.
„Wollen Sie mir drohen?!“, knurrte der Mann, als er ihr endlich folgen konnte.
„Drohen?“, unschuldig winkelte sie den Kopf an und gab sich wieder als die korrekte Staatsanwältin, „Wenn ich Ihnen drohen wollen würde, würde ich mit Ihren Schwiegereltern anfangen, oder? Die beiden haben keine Aufenthaltsgenehmigung und dennoch wohnen sie bei Ihnen. Würde das rauskommen, würde man sie des Landes verweisen. Oh, und Ihnen würde die Lehrerlaubnis entzogen werden. Zu blöd, oder? Hm. Aber wenn Sie andererseits so sehr auf eine korrekte Umsetzung der Verfahren pochen, sollte ich Ihnen den Gefallen doch tun, nicht wahr?“, langsam stand sie auf, „Einen schönen Tag noch, Mr. Flemming.“
Sie hatte sich noch nicht mal umgedreht, da rief er Jane zurück. Er knirschte mit den Zähnen. Nickte.
„Ich glaube, wir werden dieses Jahr keine Zeit für die Eigenrecherche haben“, wandte er ein.
„Oh, wirklich Jammerschade“, sie zog eine Schnute.
Endlich bildeten sich die Wutfurchen auf seiner Stirn.
„Ja. Jammerschade.“