K: Verborgene Augen

Mit geschlossenen Augen saß Borei unter der Treppe und lauschte den hastigen Schritten. Die Waisen waren alle so unbedacht, so sorglos geworden. Erst hatte er es befremdlich gefunden. Doch nun? Mittlerweile hatte er ihre Naivität zu schätzen gelernt. Sie beruhigte ihn.

„Du sagst, sie kommt nächste Woche wieder. Fieber“, hörte er die Betreuerin den Nachzügler belehren.

„Ist gut. Aber du richtest ihr eine gute Besserung von mir aus, ja?“

„Ja, doch“, sie klang genervt, „Na los! Du kommst sonst wieder zu spät, Nik!“

Damit hetzten die letzten Schritte an seinem Versteck vorbei.

„Sie ist aber sonst nicht krank …“

Wäre Borei ein Mensch gewesen, hätte er Niklas‘ kindliches Meckern nicht vernommen. So konnte er sich jedoch über die kindliche Stimme amüsieren. Er selbst kannte den Waisen, seitdem dieser vor ihrer Tür abgelegt worden war. Damals hatte er geholfen, die Windeln zu wechseln, ihn zum Laufen zu animieren und so unendlich viele Karotten püriert, bis ihm davon schlecht war. Er wusste, dass der Junge stets erwachsen sein wollte. Er wusste, warum er wie verrückt lernte.

Und er wusste, dass er diesen kindlichen Tonfall nicht mehr oft hören würde.

„Bist du da, Borei?“, fragte eine andere Stimme in den Flur.

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K: Die Rache des Hasses

Daniela und Robert Schuster waren ein älteres Ehepaar, das erst vor knapp zehn Jahren nach Kriegsheim gezogen war. Hier hatten sie sich ein ruhigeres Leben gewünscht. Ganz ohne ihre einst so neugierigen Nachbarn, die an ihren nervigen Vorurteilen festhielten. Außerdem gab es hier nur eine einzige Schule im gesamten Dorf und der Kinderlärm hielt sich auch in Grenzen.

Zumindest meistens.

„Diese Bengel sind über meine Chrysanthemen gelatscht! Meine Chrysanthemen, Robert!“, schimpfte Daniela.

„Ich weiß, das sagtest du bereits“, mürrisch hockte er vor seinem Kreuzworträtsel und weigerte sich, aufzusehen.

„Ich habe sie draußen angepflanzt, als wir hier eingezogen sind! Fast zehn Jahre haben sie unseren Vorgarten geschmückt. Und nun? Außerdem haben diese Knirpse die Holundersträuche zerrupft! Ganz zu schweigen von dem abgebrochenen Apfelbaumast. Diese Kinder sind kleine Teufel! Sie gehören in eine Anstalt!“

„Ja, ja. In eine abgesicherte Anstalt … mit Zwangswesten? Oh! Hast du eine Zierpflanze mit P für mich? Endet auf E“, murmelte ihr Mann und klopfte mit dem Kugelschreiber gegen die Lehne seines Sessels.

„Petunie“, spuckte sie ihm giftig entgegen und stürmte aus dem Zimmer.

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K: Die Kastanie

Risu betrachtete das Treiben auf der Straße unter ihm. Er saß auf einem der Bäume. Schräg über einem Obstverkäufer. Hier hielt er sich gern auf. Er genoss die Sonne, lauschte dem letzten Tratsch und wenn die Menschen nicht aufpassten, konnte er sich sogar ein paar Weintrauben oder eine Pflaume stibitzen. Die bekam er im Wald sonst nicht.

„Die Äpfel sind viel zu überteuert“, beschwerte sich eine Frau zeternd und neugierig betrachtete Risu sie.

Sie war groß. Blond. Muskulöse Oberarme. Neben ihr stand ein kleines Kind. Ein Mädchen. Vielleicht drei oder vier. Ebenso blond, aber ein viel schmaleres Gesicht. Ja! Sie wirkte geradezu hager!

„Angebot und Nachfrage, werte Frau“, erklärte der Verkäufer, „Es ist das Gesetz des Marktes.“

„Das Gesetz des Marktes? Wohl eher das Gesetz ihrer Gier!“

Empört schnappte der Mann nach Luft. Er fuchtelte mit den Händen herum. Beschwerte sich. Schimpfte.

Risu achtete nicht auf ihn. Das Kind war interessanter. Im Gegensatz zu den anderen Passanten waren ihre Augen wach. Sie sah sich die Waren an, sie betrachtete die anderen Menschen … und sie schaute hoch.

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K: Bitte sag nichts!

„Du musst es multiplizieren.“

„So?“

„Nein. Multiplizieren, nicht raten.“

„Ich rate nicht.“

Annika sah zu ihren älteren Stiefgeschwistern herüber. Sie gaben ein seltsames Bild ab. So verschoben! Dort saß Maggie – mit einem grauen Halstuch über den Schultern und einem ratlosen Blick auf ihrem Gesicht. Ungeduldig rollte sie den Stift in ihrer Hand hin und her, während Niklas ihr die Mathehausaufgaben erklärte.

„Wie multiplizierst du schriftlich?“, fragte er gerade seufzend.

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