
Fiona Katja stürzte zitternd auf den Waldboden. Obwohl sich ihr Desson an sie schmiegte, ließ der Druck nicht von ihr ab. Das Ungleichgewicht ihrer Chakren zerriss ihre Seelen. Dabei spürte sie sonst den Sog ihrer Magie kaum! Aber nun? Es war ja nicht nur ihr Sahasrarachakra, das verrückt spielte. Viel eher fühlte es sich an, als würde der Kern ihres Seins zerrissen und neu zusammengesetzt werden. Als würde er hierhin gehören-
-und gleichzeitig fort müssen.
Angst strömte aus Katja heraus. Angst, die Fiona zu verdrängen versuchte, um eine Art Balance zu finden.
Stattdessen huschte ein stummer Schrei über ihre Lippen. Weißer Nebel entstieg ihrem Mund. Sie selbst mochte die Farbe. Ihre andere Seele nicht. Katja hatte sie seit jeher verabscheut. Weiß wäre zu rein für eine Welt, die von Leid und Schmerzen geprägt wurde!
»Langsam«, meldete sich jemand plötzlich.
Hastig riss Fiona den Kopf hoch, doch verschwamm ihre Sicht noch im selben Moment. Alles drehte sich. Dabei wollte sie sich nur umsehen! Wer hatte gesprochen? Sollte sie nicht allein sein? Müsste sie das andere Wesen töten? Wenn Macian sie fanden, würde man sie in einen Kampf verwickeln. Hutan durften nichts von der Magie wissen. Und Desson oder Hushen? Sobald der Otou-san von ihr erfuhr, würden sie eben jene Mission gefährden, die er ihr aufgetragen hatte!
Dabei wüsste er erst in acht Jahren Bescheid …
Sie war auf sich allein gestellt.
»Mir ist schwindelig«, behauptete sie und wies ihr anderes Ich an, mitzuspielen. Ihre Hand glitt in Fuyus weiches Fell, das unter ihrer Berührung erschauderte.
Erschrocken wurde ihr bewusst, dass die Arme weitaus schlimmere Qualen leiden müsste. Sie war immerhin ihre Vertraute! Die Desson, die FK’s Gegensätze ausgleichen musste, um überleben zu können. Wenn Fiona das Chaos so stark spürte, wie musste es dann ihrer treuen Freundin ergehen?
Wir müssen uns wieder fangen! Erinnere dich an den Brief!, schrie Katja durch ihren Kopf.
Der Brief? Ja. Da war etwas. Sie hatte ihn vor ihrem Sprung durch die Zeit lesen müssen. Er hatte von ihren Gegensätzen gesprochen. Eigentlich hatte sie die Worte als bloße Übertreibung abtun wollen. Doch nun? Musste sie wirklich alle »Gegensätze tilgen, um den Konsequenzen zu entgehen«? Was bedeutete das?
Eine fremde Frau trat näher. Sie war rundlicher. Die schwarzen Haare lockig und verdreckt. Dennoch wirkte sie nicht verwahrlost. Eher … erhaben? Wieso hatte sie die Fremde zuvor ausgeblendet? Lag es daran, wie sie in den Wald passte? War sie eigentlich ein Desson? Unmagisch konnte sie nicht sein. Dafür schenkte sie Fuyu zu wenig Beachtung.
»Du bist ein Ubrid?«
Die Frage schmerzte FK mehr, als das Zerren an ihren Chakren. Wie oft war sie als Kind für ihre Hutanmutter gehänselt worden? Selbst als LR sich für sie einsetzte, hatte man immer noch hinter vorgehaltener Hand über sie getuschelt. Man hatte ihr den Weg zu ihrem besten Freund verwehrt. Sie ausgeschlossen. Sie gedemütigt. Die Erfolge ihres Vaters kleingeredet!
So sehr sie ihre Mutter auch liebte, umso mehr hasste sie das gemischte Blut in ihren Adern.
»Und wenn schon?!«, spuckte sie die Worte aus.
Katja schlug genauso um sich. Der vereinte Zorn trieb sie an. Sie hielten sich daran fest. Und je mehr sie sich darin verkrallten, desto weniger schmerzten die Chakren.
Erst nun erkannte FK, dass ihre Chakren wahrhaftig schmerzten. Es war nur Fuyu zu verdanken, dass sie überhaupt noch bei Bewusstsein war. Der Desson fing ihre Pein ab und durchlebte die Schmerzen allein!
»Oh, Verzeihung. Ich meinte es nicht beleidigend«, die Fremde lächelte gutmütig, »Wir haben nicht viel Zeit, ehe mein Neffe kommt. Ich bin Samantha Maria Sanchez. Derzeit. Mein wahrer Name ist Mingasha. Ich habe mir die Freiheit genommen, deine Briefe zu lesen, als sie noch auf dem Weg zu dir waren. Wenn ich ein zweites Unglück abwenden kann, so muss ich alles dafür geben. Immerhin ist das erste bereits mein Vergehen gewesen, weißt du?«
Die Worte ergaben keinen Sinn in ihrem Kopf. Sie hatte noch nie von jemandem namens Mingasha gehört. Welche Unwahrheiten verbreitete die Fremde? Es klang fast, als wolle sie sich auf die Stufe mit einem Dimen stellen!
»Dann lass mich einfach in Ruhe, ja?«, kämpfte Fiona mühsam hervor.
»Keine Sorge. Das werden wir. Ich habe Shizen gebeten, dich ziehen zu lassen. Aber in deinem Zustand macht es keinen großen Unterschied. Du bist ja schon halb tot«, behauptete die Fremde kichernd.
In der Hushen schäumte die Wut in neue Höhen.
Was fällt ihr eigentlich-
Warte! Da! In ihrer Hand! Sie hat den Yubiwa!
Überrascht bemerkte Fiona, dass ihr anderes Ich Recht hatte. Nur konnten Unbefugte den Ring nicht gefahrlos in die Hand nehmen, oder? Hatte diese Mingasha ihn einst von einem Otou-san bekommen?
So schnell, wie die Neugier in ihr aufstieg, so schnell kehrte auch der Druck auf ihre Chakren zurück. Diesmal war er schmerzvoller. Fuyu jaulte erschrocken auf, als die Pein sie überrannte. Es war, als wollten ihre Chakren fort. Fort zu-
»Langsamer. Du lebst gerade zweimal, richtig? Deine Chakren wissen einfach nicht, wohin sie sollen. Wahrscheinlich durchlebt deine jüngere Version derzeit auch wahnsinnige Qualen … Du wirst nie wieder Ruhe haben, es sei denn, du bist nicht mehr du«, murmelte die Fremde, »Ihr müsst eure Seelen vereinen, um jemand anderes zu werden. Gib deine Magie auf oder stirb und bewirke nichts hiervon!«, plötzlich flogen FK die Briefe um die Ohren. Es waren um die fünfzig. Jeder mit ihrem oder dem Namen ihres Sohnes beschriftet. Jeder mit einem Tag und einer Uhrzeit oder einer Notiz versehen. Jeder-
Jeder besiegelte ein Schicksal!
»Wenn du so viel weißt, warum kümmerst du dich nicht selbst hierum?«, spuckte Fiona aus und krallte sich in Fuyus Fell fest.
Ihr weißer Wolfdesson krümmte sich zuckend am Boden. Sonst hatte sie sich auf den Desson stets verlassen können. Sie war die riesige Gestalt, die ihren Rücken gestärkt hatte. Die Vertraute konnte jeden Macian in die Flucht schlagen, der FK auch nur schief ansah!
Und nun kämpfte sie um ihr Leben …
»Mir sind schon lange die Hände gebunden, solange ich außerhalb meines Reiches zugegen bin. Hier kann ich nur meinen Segen verteilen und euch den Weg weisen.«
Etwas berührte FK’s Stirn und ihr war, als würden sie aus ihrem Körper gezogen worden. Ihre andere Seele war bei ihr. Alles andere wurde übertönt. Sie hörte Autos. Dann roch sie Apfelkuchen. Eine graue Wand baute sich vor ihr auf. Links ein Fenster. Rechts ihr Kinderbett aus der Wohnung ihrer Großeltern. Ihre Schwester saß darauf und spielte mit einem Blatt Papier. Sie summte etwas. Es war eine nostalgische Melodie. Ein altes Lied.
Tränen kitzelten ihre Wangen.
»Willkommen im Labyrinth der verlorenen Seelen«, vernahm sie aus dem Radio auf dem Fensterbrett, »Findet hinaus, ehe euer Körper vergeht. Sonst wird nichts von ihm übrig bleiben.«
Lächelnd schaute FK’s einzige Schwester auf, deren Tod sie seit sechs Jahren betrauerte.