
Bacchus holte erneut mit seiner Sense aus. Pausenlos hieb er damit auf die Ähren ein. Es war die ermüdende Schufterei, mit der er sich das tägliche Brot sicherte. Immerhin war er einer der unzähligen umherreisenden Bauern. Gemeinsam zogen sie von Feld zu Feld, um ihr Dasein zu fristen. Keiner von ihnen besaß eine sorgenfreie Zukunft, ein eigenes Haus oder gar ein paar Schuhe.
Ihre Zukunft gehörte den ländlichen Bauern.
Hinter ihm sackte eine Frau zusammen. Niemand ging zu ihr. Niemand unterbrach sein Handwerk, um gar nach ihr zu sehen. Sie hantierten lieber weiter. Selbst er.
Wer nicht arbeitete, würde keinen Lohn bekommen.
Erst als die Sonne unterging und Bacchus sein Brot erhalten hatte, schaute er nach der Zusammengebrochenen. Sie hatte sich an den Rand des Feldes gekämpft. Zitternd saß sie dort – die geschlossenen Augen dem Himmel zugewandt.
Das tat Selene immer, wenn es ihr nicht gut ging.
Stumm schüttelte Bacchus seinen Wasserschlauch vor ihr, bis sie ihn nahm. Erst danach brach er das Brot mit ihr. Er schuldete es ihr. Selene hatte dasselbe für ihn getan, als er einst mit den schweren Arbeiten gerungen hatte. Sie hatte sich für ihn eingesetzt. Sie hatte ihm gezeigt, wie er die Sense führen musste, wie er die Körner aus den Ähren bekam, wie er mit den ländlichen Bauern reden musste, damit sie ihm helfen wollten …
Und sie hatte ihn auf den Boden der Tatsachen geholt, als er noch so töricht hoffte, dass seine Familie ihn zurücknehmen würde. Er war immerhin nur der Drittgeborene! Nicht der vierte oder fünfte. Er konnte ihnen helfen!
Doch sahen es alle anders.
„Du solltest dir leichtere Aufgaben suchen“, riet er still.
Selenes leere Augen starrten ihn an. Sie waren schön. Schön, aber auch verloren. Trüb.
„Was soll ich schon noch lernen können?“, fragte die Blinde lachend.
Bacchus schwieg.
Selene war die Erstgeborene eines ländlichen Bauers gewesen. Eigentlich hätte sie alles erben sollen. Aber ohne Augenlicht wurde sie von allen verstoßen.
Wie herzlos die Welt doch war!
„Du solltest deinen Lohn nicht mehr mit mir teilen“, bemerkte sie, während sie ihm etwas von dem abgebrochenen Brot zurückgab, „Diese alten Knochen werden eh nicht mehr lange mitmachen.“
„Sag so etwas nicht!“, Bacchus schüttelte abrupt den Kopf, „Nein, du- du-“
„Ich lebe schon über meine Zeit hinaus“, unterbrach sie bestimmt.
Er biss sich auf die Zunge. Wenn sie sich ihrer so sicher war, half kein Reden, kein Flehen. Da war sie genauso wie die ländlichen Bauern: stur bis zum Umfallen.
Und doch war sie heute zusammengebrochen …
Erschöpft stand Bacchus auf. Er wollte sich die Beine vertreten. Ein kurzer Spaziergang. Dann könnte Selene es sich nochmal anders überlegen. Und er? Er musste den Kopf freikriegen. Immerhin war sie seine Familie. Es nagte an ihm, dass sie sich zu den Nutzlosen, zu den Toten zählte!
Vor dem Morgengrauen wäre er zurück.
Bacchus lief an den anderen reisenden Bauern vorbei. Einige saßen gemeinsam im Kreis. Andere schliefen auf dem Boden. Nirgends brannten Lagerfeuer. Nur den ländlichen Bauern war es gestattet, Flammen zu entzünden.
Sie mussten frieren.
Zornig über die Welt lief er schneller. Er nutzte seine Sense dabei wie eine Krücke. Um den Boden um sich zu ertasten. So hatte Selene es ihn gelehrt, als sie ihn aufgenommen hatte.
Diese gutherzige Seele …
Erst als er sich wieder beruhigt hatte, machte er sich auf den Rückweg. Er lauschte in die Dunkelheit und stellte sich vor, selbst blind zu sein. So konnte er besser nach den reisenden Bauern lauschen. So würde er sie schneller finden und-
Abrupt blieb er stehen. Dort hinten vernahm Bacchus ungewöhnliche Laute. Es klang, als würde der Wind singen? Nein. Das war doch albern, oder? Nur … Was war es dann?
Zitternd umklammerte er seine Sense fester. Diese Melodie … wenn er sie denn so nennen konnte … Sie beruhigte ihn. Sie ließ sein Herz hüpfen. Ehe er sich versah, ging er in ihre Richtung. Er folgte den Klängen. Er-
Seine Sense stieß gegen eine Wurzel.
Sofort blieb Bacchus stehen.
Der Wald? Nein. Wälder gab es so nahe bei den Feldern nicht. Und er hörte Wasser. War er am Bach? In diesem kleinen Hain? Er hatte ihn sonst nur aus der Ferne bestaunt. Diese paar Bäumchen mit den riesigen Felsen dazwischen …
Sachte tastete er sich voran. Er spürte, wie der Boden glatter und kühler wurde. Dafür wurde diese Musik lauter. Ja! Musik. Das war ein Lied.
Ein Lied, das seine Seele hüpfen ließ.
Ein Lied, das ihn an sorglose Tage erinnerte.
Ein Lied, das abbrach, als er mit der Sense gegen einen Stein stieß.
„Wer gehet dort?“, fragte eine kratzige Stimme.
Bacchus zuckte zusammen. Es klang so bedrohlich, so mächtig. Als würde die andere Person die Waage von Leben und Tod in den Händen halten!
„Verzeihung“, quetschte er daher raus, „Ich hörte nur diese Melodie und wollte sehen, welch wundersames Geschöpf die Musik des Herzens spielen kann.“
Schmeicheln. Immer schmeicheln und den Kopf geduckt halten. So hatte Selene es ihn gelehrt. So hatte er bislang ein gutes Leben fristen und sich sogar seine Sense verdienen können.
Und so schien die Stimme auch gefallen an ihm zu finden.
„Ich? Ein wundersames Geschöpf? Würdest du das auch behaupten, wenn du mich sehen könntest?“, lachte es.
Etwas tackte. Es klang wie Hufe, die über den Stein klackerten. Selene hätte das Geräusch besser einordnen können …
„Ist Eure Hülle so wichtig, wenn Ihr doch für diese einzigartige Musik verantwortlich seid?“, gab Bacchus zurück.
Warme Luft kitzelte seinen Nacken. Dieses Wesen stand hinter ihm! Es war kein Mensch. Kein Tier. Es …
Was war es?!
„Möchtest du noch mehr hören?“, fragte die Stimme nun leise.
Bacchus schluckte. Dann nickte er zaghaft.
Obwohl man nichts sehen konnte, verstand das Geschöpf. Die Töne erklangen erneut. Sanfte Pfeiflaute, die von dem Frühling erzählten. Oder zumindest glaubte Bacchus das, als er sich in der freudigen Melodie verlor.