Timothy – Anschleichendes Unheil …

Mehrere Tage begleitete ich Timmy auf den Markt und warnte ihn vor unerwünschten Blicken. Dabei schwebte ich stets über ihm. Ich blieb aufmerksam. Ich flüsterte ihm Warnungen zu. Und wenn es zu gefährlich erschien, huschte ich durch die misstrauischen Erwachsenen, um sie erschaudern zu lassen.

Danach waren sie eh mit sich selbst beschäftigt.

Nur schien Timmy mir mit jedem Marktbesuch weniger zu vertrauen. Er hatte nichts an mir auszusetzen. Zumindest nichts, was er mir ins Gesicht sagte. Aber er wurde schroffer. Schroffer und aggressiver.

„Habe ich etwas falsch gemacht?“, fragte ich, als wir auf dem Rückweg waren. Ich hatte schon vorher mit dem Gedanken gespielt, etwas zu sagen, aber da waren immer so viele Leute oder Julie zugegen gewesen. Und das erschien mir nicht richtig …

„Jetzt nicht“, murrte Timmy zurück.

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K: Verborgene Augen

Mit geschlossenen Augen saß Borei unter der Treppe und lauschte den hastigen Schritten. Die Waisen waren alle so unbedacht, so sorglos geworden. Erst hatte er es befremdlich gefunden. Doch nun? Mittlerweile hatte er ihre Naivität zu schätzen gelernt. Sie beruhigte ihn.

„Du sagst, sie kommt nächste Woche wieder. Fieber“, hörte er die Betreuerin den Nachzügler belehren.

„Ist gut. Aber du richtest ihr eine gute Besserung von mir aus, ja?“

„Ja, doch“, sie klang genervt, „Na los! Du kommst sonst wieder zu spät, Nik!“

Damit hetzten die letzten Schritte an seinem Versteck vorbei.

„Sie ist aber sonst nicht krank …“

Wäre Borei ein Mensch gewesen, hätte er Niklas‘ kindliches Meckern nicht vernommen. So konnte er sich jedoch über die kindliche Stimme amüsieren. Er selbst kannte den Waisen, seitdem dieser vor ihrer Tür abgelegt worden war. Damals hatte er geholfen, die Windeln zu wechseln, ihn zum Laufen zu animieren und so unendlich viele Karotten püriert, bis ihm davon schlecht war. Er wusste, dass der Junge stets erwachsen sein wollte. Er wusste, warum er wie verrückt lernte.

Und er wusste, dass er diesen kindlichen Tonfall nicht mehr oft hören würde.

„Bist du da, Borei?“, fragte eine andere Stimme in den Flur.

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Märchenstunde: Die Geburt der Meernixen

Es war einmal vor langer, langer Zeit, da lebte ein König auf seiner Insel. Dieser König hatte sieben Söhne, aber nur eine Tochter, welche jede Krankheit magisch anzog. Stets wurde sie von Husten oder Fieber geplagt, sodass sich der König immerzu um sie sorgte. Und so kam es, dass er seine Söhne vernachlässigte, die sich bald darauf alle als alleinige Erben sahen.

Jeder wollte nach dem Tod ihres Vaters das Reich regieren. Denn jeder sah sich selbst als perfekten Nachfolger an. So war der erste sehr geschickt in der Buchführung, der zweite hatte die Kunst der Diplomatie mit dem Festland erlernt, der dritte war in der Schiffsfahrt und der Meereskunde bewandert, der vierte wusste jede Nahrung herzustellen oder gar anzubauen, der fünfte war ein Gelehrter des Tempels, der mit Auszeichnungen überhäuft wurde, der sechste wusste jedes Tier zu besänftigen und für seine Zwecke zu gewinnen, der siebte lenkte die Stimme des Volkes mit seinem Gesang.

Wie konnten die Gaben der anderen Brüder wichtiger als die eigene sein? Geschweige denn für eine kränkliche Schwester ignoriert werden?

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