B: Zwischen Traum und Erinnerung

„Du und Oli?“, hinterfragte ihr Vater zum vierten Mal.

Mittlerweile nickte Liane nur noch still, während sie sich ein Stück Gurke in den Mund steckte. Es war sinnlos, die Wahrheit zu leugnen. Immerhin hatte ihr Vater gesehen, wie Oliver sie nach Hause gebracht hatte. Ungeduldig hatte er auf sie gewartet. Er hatte sie erwartet gehabt. Sie. Nicht ihre Begleitung. Nicht den Kuss.

Dabei hatte letzteres sie ebenso überrumpelt.

„Hatte er dir …?“, unschlüssig wedelte ihr Vater mit den Armen umher und warf dabei fast seinen Teller vom Tisch. Er hatte sein Abendessen noch nicht angerührt. Stattdessen kämpfte er mit jedem zweiten Satz.

Angespannt hielt sie diesmal inne: „Was meinst du?“

„Deine Freundin. Die neulich hier war. Shiwo? Shino?“

„Shiloh“, korrigierte das Mädchen vorsichtig.

„Genau! Sie sprach von Liebeskummer und-“

„Nein“, abrupt stand Liane auf, „Lass es. Das ist … Das ist meine Sache, in Ordnung? Ich mache das allein.“

„Ich mein‘ ja nur-“

„Nein“, entschieden verschränkte sie die Arme vor der Brust, „Bitte. Misch dich nicht weiter ein, ja? Bitte …“

Seufzend sackte er in sich zusammen und sofort flüchtete sie nach oben. Fort von dem steifen Abendessen, das ihr eh nur den Bauch verknotet hatte. Ihr Tag war schon chaotisch genug gewesen! Die Klatschpresse war wie ein Orkan durch die Schule gefegt, Betty hatte sie den ganzen Tag angegiftet, Shiloh ein Dauergrinsen aufgesetzt, Oliver …

Er war so ruhig geblieben. Besonnen hatte er sie abgeholt. Er hatte so erleichtert gewirkt. Nein. Aufgeschlossen? Es hatte sie so sehr beruhigt, dass sie nur ein einziges Mal nach ihrem Talisman getastet hatte!

Nun jedoch? Daheim?

Sie starrte auf die geballte Hand, in der sie das einlaminierte Papier verbarg. Seitdem sie durch die Haustür gekommen war, ruhte es darin. Sie hatte es auf keinen Fall loslassen können …

„Ich bin doch irre“, flüsterte sie in ihr leeres Zimmer und warf sich aufs Bett.

Ihr Körper fühlte sich so schwer an, das Bett so einladend. Vielleicht sollte sie einfach hier liegen bleiben? Nur für ein paar Minuten? Einmal die Hausaufgaben, ihren Vater und alle anderen vergessen?

Ihr Handy vibrierte auf dem Nachttisch und ächzend streckte sie sich danach aus. Sie brauchte zwei Anläufe, um es heranzuziehen. Die Nachrichten darauf waren es jedoch wert.

Oliver.

Er fragte, wie es mit ihrem Vater gelaufen war und ob sie es vor seinen Eltern auch offiziell machen wollen. Er hätte nichts dagegen. Immerhin arbeiteten ihre Väter ja zusammen. Und er vermisse sie.

Liane schrieb ihre Antwort viermal um, ehe sie die Zustimmung absendete. Dadurch vergaß sie jedoch fast, auf den zweiten Teil einzugehen.

Sie brauchte einen Moment, ehe sie ihm ein Herz als Antwort sandte. Das wäre doch in Ordnung so, oder? War es zu viel?

Zu wenig?

Nachdenklich ließ sie das Handy neben sich aufs Bett fallen und starrte die Decke an. Diese weiß-graue Decke. Sie erinnerte das Mädchen an eine ähnliche Wand. Eine, die mit Rissen überzogen war. Nein. Keine Risse. Das waren Linien gewesen. Zeichen, die jemand hineingekratzt hatte. Die-

Wir dürfen keine Lügen mehr zulassen! Ein falsches Wort könnte unseren Frieden auslöschen. Eine Unwahrheit kann all unsere Seelen verdammen!

Die Stimme klang durch ihren Kopf. Sie fühlte sich körperlos an. Körperlos und zugleich echt. Blitze zuckten auf. Dann sanfteres Licht. Es bebte durch den Saal-

Ein pechschwarzer Flügel schob sich vor sie. Er spreizte sich ruckartig aus. Tanzte zur Seite. Kreiste. Schob sich nach oben und nach unten. Nach oben und- Stopp.

Irritiert vernahm sie dazu Worte in ihrem Kopf. Worte, die zu der Choreografie passten. Die wie Gebärdensprache wirkten.

Und was schlägst du vor? Bislang hast du uns ja nur mit Meckern dienen können!

Als die Flügel sich wieder an den Körper anlehnten, erkannte sie das Wesen wieder. Sie hatte es viel zu oft als Kind gezeichnet. Es war das Teufelswesen mit den drei Hörnern. Ein riesiges Geschöpf, das über ihr thronte. Es hatte etwas von einem Ungeheuer.

Dennoch fürchtete sie sich nicht.

Der Schlüssel muss besser verwahrt werden. Sie darf nicht nach draußen, keine Freunde haben. Sonst würde sie ihnen nur das Lügen erlauben. Sie darf nicht-

Lichter und Blitze zuckten zornig durch den Saal. Nur Erleuchteten sie die anderen Wesen nicht. Es waren Gestalten, die sie nicht ausmachen konnte. Die am Rand standen und sie beobachteten.

Du willst sie einsperren?

Diesmal waren die Worte wellenartig über sie hinweggeglitten. Sie erschienen ihr wie ein Echo. Den Sprechenden konnte sie jedoch nicht sehen. Nur einen seiner Tentakel, der durch den Raum kroch.

Warum nicht?, fragte ein Dröhnen nun.

Die Stimmen verknoteten sich ineinander. Sie konnte alle hören. Hören, aber nicht weiter verfolgen. Jede hatte ihren eigenen Klang, ihr eigenes Muster, ihre eigene Eigenart. Nach einer Weile schwangen Gefühle mit den Worten mit. Sie verknoteten sich in ihrem Kopf. Jemand schimpfte. Jemand trauerte. Jemand wurde wütend. Jemand-

Ihre Finger zuckten unruhig, als sie die Augen schloss. Überrascht bemerkte sie dort nun eine kleinere Hand. Diese zitterte. Sie klammerte sich regelrecht an sie. Sie-

Ich habe sie nicht zum Schlüssel ernannt, um sie in eine Gefangene zu verwandeln!, beharrten die Flügel, Sie ist meine Schwester!

Und du derjenige, der sie verdammt hat!

Erschrocken fuhr Liane auf. Ihr ganzer Körper zitterte. Sie starrte auf ihre Hände. Beide waren leer. In keiner waren die olivenfarbene Finger zu finden. Diese kleinen Finger, die doch gerade noch in ihren lagen! Wie hieß sie? Wie hieß das Kind, das sie damals beschützt hatte? Sie hatte es mit Leib und Seele verteidigt! Sie hatte es-

Nein. Das konnte nicht sein. Es war nur ein Traum gewesen. Ein Traum!

Doch schien sie sich selbst nicht mehr glauben zu können …

Schaudernd schlichen sich ihre Gedanken zu dem gehörnten Wesen zurück. Es hatte diesen Schlüssel beschützt. Es hatte ihn als Schwester bezeichnet. Und diese anderen … Sie hatten diesen Schlüssel einsperren wollen. Weil er Lügen zulassen könne.

Lügen …

War das kleine Mädchen der Schlüssel gewesen?

Langsam setzte sie sich auf und stieß dabei gegen ihren Talisman. Sie brauchte einen Moment, um ihn wiederzuerkennen. Langsam fiel der Traum von ihr ab. Oder die Erinnerung? Nein. Das war albern. Es musste ein Traum gewesen sein. Ein Traum!

„Nur ein Traum“, flüsterte sie in die Nacht und stand auf.

Sie würde sich frisch machen und dann schlafen gehen. Richtig schlafen gehen. Falls ihr Kopf das noch zuließe und-

Ihr blinkendes Handy lenkte sie ab. Oli hatte ihr zwei Nachrichten geschickt. Die erste handelte von seinen Eltern. Die zweite war ein Gute-Nacht-Gruß.

Dankbar erwiderte sie letzteres. Diesmal fand sie die richtigen Worte auf Anhieb. Sie sendete ihre Antwort ab, ohne auf die Uhrzeit zu achten. Diese fiel ihr erst danach ins Auge.

„Super. Halb drei“, murrte sie, „Bitte schlaf weiter, ja?“

Stattdessen vibrierte ihr Handy.

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