
Viel zu lange blickte ich auf Janes Grab herab. Es fühlte sich falsch an, dass dieses Mädchen als Oma die Welt verlassen hatte, während ich noch was-? Ein Kind war?! Denn genauso unbedeutend war ich doch! Ich war nur ein dämliches Kind, das von fast niemandem gesehen wurde!
…
Warum war ich eigentlich noch hier?
„Ach, Jane“, flüsterte ich in die Nacht. Ich wusste nicht, ob ich mir ein Zeichen erhoffte. Ich musste einfach ihren Namen aussprechen. Vielleicht, damit ich ihn nicht vergessen würde? So wie die Welt mich vergessen hatte?
Dabei wünschte sich ein Teil von mir sehnlichst eine Antwort. Aber der andere betete unentwegt, dass sie nicht umherirren müsse. Sie sollte von dieser Welt Abschied nehmen können. Sie sollte nicht umherirren müssen. Sie … Sie hatte etwas Besseres verdient.
Als die Sonne über den Horizont kroch, glitt ich zurück ins Haus. Still huschte ich durch die Wände und begutachtete zum ersten Mal die oberen Zimmer. Überall konnte ich Spuren einer glücklichen Familie entdecken: Dort hatte jemand in eine Bibel gemalt. Hier waren einige getrocknete Blumen wirr zusammengesteckt worden. Und da hinten zierte ein einzelnes Foto die Wände.
Sie hatten ein Familienbild aufnehmen lassen. Obwohl ich drei der Gesichter nicht kannte, konnte ich sofort alle zuordnen. Ich konnte die Liebe in den Augen von dieser Marianne sehen. Und die Freude in denen von Gretle. Und dieser Jonathan …
Einzig seinen Blick wusste ich nicht zu deuten.
Dann nahm mich Janes Blick gefangen. Ihre Augen wirkten auf dem Foto so lebendig. Es waren unverwechselbare Augen. Wundervolle Augen. Augen voller Großherzigkeit …
Und trotzdem lag sie nun allein unter der Erde.
Timmys und Julies Stimmen klangen durch den Boden zu mir nach oben. Ich konnte die Worte nicht ausmachen. Dafür waren sie zu leise. Zu weit weg. Jedoch hatten sie etwas Harsches an sich. Etwas Streitendes?
Nachdenklich ließ ich mich nach unten fallen. In die dunkle Ecke der Küche. Dort verharrte ich lauschend, um mir einen Überblick zu verschaffen. Denn gerade war mein eigener Name gefallen … Die Kinder diskutierten über mich! Timmy war nicht von mir überzeugt. Ihm wäre es lieber, wenn ich verschwände. Ich solle sie in Ruhe lassen. Aber Julie wollte mir vertrauen. Ich könne ihnen helfen. Ich wäre auch der Retter ihrer Großmutter gewesen.
Der … Retter …
„Ich könnte nach Gretle und eurer Mutter schauen“, unterbrach ich das Wortgefecht ungewollt, „Also, wenn ihr möchtet. Allerdings weiß ich nicht, ob sie mich sehen oder gar hören können. Aber dann könnte ich euch Gewissheit bringen, oder?“, da Timmy so erschrocken aufgesprungen war, huschte ich eilig etwas zurück und blieb halb in der Wand stecken, „Ansonsten könnte ich auch aufpassen, dass niemand Timmy beim Diebstahl schnappt oder so. Ich möchte mich nicht aufdrängen. Ich möchte nur-“
Was wollte ich? Warum hatte dieses eine Wort mich so sehr bedrängt? Retter … Hatte ich die Bezeichnung wirklich verdient? Oder wollte ich sie mir nun nur nachträglich dazu verdienen? Immerhin hatte ich ja Jane verlassen. Ich war nicht da gewesen, als Jonathan ins Dorf gekommen war. Ich habe nicht auf sie aufgepasst, als sie starb. Ich … wie konnte ich ein Retter sein, wenn ich doch derjenige gewesen war, der gegangen ist?!
„Dann hilfst du uns?“, unterbrach Julie meine stummen Vorwürfe aufgeregt.
Ja. Ich musste. Wie auch nicht, wenn dieses kleine Mädchen mich so sehr an Jane erinnerte …
„Ich weiß nicht. Was, wenn er in Wahrheit ein Dämon ist?“, fragte Timmy argwöhnisch.
„Ein Dämon?“, der Gedanke war mir noch nie zuvor gekommen.
„Genau! Du hast damals die Feuer in der Kirche auflodern lassen, oder? Und gestern hat das Licht auch so geflackert … wegen dir!“, rief er aus.
Ja. Feuer schien auf mich zu hören. Oder auf eher meine Gefühle? Es war mir zumindest schon damals aufgefallen. Ich hatte es benutzt, um Jane zu helfen. Ob sie mich deswegen auch für einen Dämon gehalten hatte? Hatte sie mich deswegen nicht mehr sehen können? Hatte sie-
Nein.
Eilig verdrängte ich die Gedanken. Diese Zweifel durfte ich nicht zulassen. Jane hatte stets nur das Gute gesehen, oder? Sie durfte mich nicht für ein Monster gehalten haben! Das überhaupt zu denken, schmerzte. Es brannte! Diesen Schmerz würde ich auf Dauer nicht ertragen können …
„Ich weiß nicht, was ich wirklich bin. Also, ich halte mich für einen Geist, aber was ist, wenn ich mich irre? Ich weiß nur, dass ich euch helfen möchte. Ist es da wirklich so wichtig, was ich bin? So dringend, wie ihr jemanden gebrauchen könnt?“
Timmy blickte angespannt auf den Boden. Seine Fäuste zitterten. Dennoch widersprach er nicht.
„Du …“, er schaute Julie nochmal an, „Bist du dir sicher?“
Seine Schwester nickte heftig.
Endlich schien der Widerwillen von ihm abzufallen.
„In Ordnung. Du …“, Falten bildeten sich auf seiner Stirn, „Du kannst mitkommen, wenn ich morgen etwas Brot stehle. Erstmal. Aber du bleibst da, wo ich dich sehen kann. Ich will wissen, was du machst. Um-“
„Um Vertrauen zu schöpfen“, schloss ich.
„Kann man so sagen“, gab Timmy mürrisch zu, „Wir gehen es langsam an.“
Leise stimmte ich ihm zu und dankend umarmte Julie ihren Bruder. Sie meinte, dass es das Richtige wäre. Dass ich die beiden auch retten könnte. Dass nun alles besser werden würde.
Nicht gut.
Besser.
Geknickt näherte ich mich dem Mädchen. Es kam mir falsch vor, dass ein so junges Kind bereits so viel Hoffnung in die Welt verloren hatte. Da war nur noch ein winziger Funken. Ein vergessener Schimmer …
Dabei waren Julies Augen doch die glücklichsten auf dem Familienfoto gewesen …