K: Nach vorn oder zurück?

Schweigend beobachtete TJ das Waisenhaus. Es lag so abgelegen von der restlichen Welt – beinahe versteckt. Nur eine einzige, einsame Straße führte an dem riesigen Gebäude vorbei, das von Shizens Wäldern verborgen lag. Wenn die Apokalypse einträfe, würde man hier nichts davon mitbekommen.

Und wenn hier ein Unglück geschehen würde …

Besser hier, als woanders, versuchte er sich einzureden.

Ist klar, meldete sich John, seine zweite Seele, mürrisch zu Wort, Lass mich wissen, wenn du es wirklich ernst meinst.

Kopfschüttelnd lief TJ am Waldrand entlang. Er achtete darauf, nicht gesehen zu werden. Wenn man ihn sah, würden die Leute ihn ansprechen. Dann müsste er sich mit einer fremden Person beschäftigen. Dann müsste er höflich bleiben, obwohl er am liebsten-

Du bist doch nur sauer, dass Mutter uns aus dem Team nehmen wollte. Gib’s einfach zu!, erklang die andere Stimme trällernd.

Sie hat kein Recht!, brach es aus ihm heraus – es abzustreiten, wäre eh sinnlos.

Kommt ganz auf den Blickwinkel an.

Ihre Gründe sind nur vorgeschoben!

Natürlich. Ansonsten müsste sie- Drei Uhr!

Mit einer flüssigen Bewegung schob sich TJ hinter den nächsten Baum. Er beobachtete, wie zwei Mädchen aus dem Haus kamen – die eine im Vorschulalter, die andere schon ein Teenager. Lachend liefen sie fort. Dicht gefolgt von einem polternden Jungen.

„Aber es stimmt doch! Mel! Anja!“, eilte er ihnen hinterher. Er rief dabei noch irgendwelche Erklärungen aus. Worte, die vom Wald verschluckt wurden, als sie die Straße zum Dorf hinunter eilten.

Nachdenklich beobachtete er die Kinder. Diese unmagischen Menschen, die fernab vom Tumult der restlichen Welt leben konnten. Und dennoch …

Auch sie hatten ihre Laster zu schleppen.

Wäre es wirklich so gut, wenn hier ein Unglück geschehen würde?, John schien mit sich zu kämpfen. Tarek konnte seine Sorgen regelrecht ergreifen. Diese Zerrissenheit, die auch ihn heimgesucht hatte. Aber …

Sie kann es. Sie kann sich beherrschen. Ich weiß es. Du weißt es. Sie würde den anderen Kindern nichts antun. Dafür … Dafür ist Alice zu friedfertig und so wie Maggie die Waisen ins Herz geschlossen hat … Sie hat es im Griff.

Genau. Daran musste er denken. Dieses magische Mädchen, das im Waisenhaus Schutz gesucht hatte … Er musste ihr etwas Vertrauen schenken, wenn er wirklich verstehen wollte. Nur so konnte er sie weiterhin beobachten. Er musste doch begreifen, wieso sie so ruhig blieb. So-

Aber sie verliert immer noch die Kontrolle, wenn die Alpträume sie heimsuchen. Und was dann? Es wäre unsere Schuld, wenn die anderen Kinder sterben würden … oder?

Die zögerlichen Worte brachten Tarek ins Stocken. Solch griesgrämige Gedanken war er von seinem anderen Ich nicht gewöhnt.

Ein Schatten huschte hinter den Fenstern lang. Dann öffnete sich die Tür. Zwei Jungen traten raus. Einer in TJ’s Alter, der andere vielleicht drei oder vier Jahre darüber. Sie rangelten miteinander, sprachen über einen Geburtstag.

Dennoch war da dieser verfolgte Blick in ihren Augen.

Hatten alle Waisenkinder denselben? Oder bildete TJ sich das nur ein? Valerie hatte doch genauso ausgesehen, oder? Damals, als er ihr Essen gebracht hatte und-

„TJ!“, zischte ein dunkles Wesen aus dem Unterholz, „Sie können dich jeden Moment sehen!“

Bestimmt dachte sein kleiner Freund, dass er gerade mit John sprach und nicht mehr auf seine Umgebung achtete. Gakumon war eine gute Seele. Immer bemüht, sich anzupassen, auf ihn aufzupassen, ehrlich zu bleiben.

Ehrlichkeit … Konnte so etwas denn helfen?

Tarek? Wir … Wir haben ihr gesagt, dass wir uns nicht einmischen würden, ja? Erinnerst du dich? Wir-

Wir haben es gesagt, als sie herkam. Vor zwei Monaten. Einmal Hallo zu sagen, sollte nicht verkehrt sein. Wir haben ja nie behauptet, uns in einen stummen Geist zu verwandeln, oder?

Ja, aber …

Willst du, dass hier ein Unglück geschehen kann?!, wies er John schroff zurück.

Prompt schwieg er und Tarek klopfte gegen seinen Oberschenkel. Dreimal. So war Gakumon wenigstens vorgewarnt und könnte die Augen offenhalten.

Im nächsten Moment tauchte er hinter den Waisenjungen auf.

„-Ma meinte, ich so-woah!“, der Ältere bemerkte ihn zuerst und sprang beinahe zurück ins Haus.

„Ha… Hallo?“, versuchte es der Jüngere ein wenig mutiger, doch versagte ihm dabei fast die Stimme, „Du- äh … Paul?“

TJ folgte dem Blick des Jüngeren auf diesen Paul. Paul … Ja. Das war der Waisenjunge, der Maggie hergebracht hatte. Dann … Wie hieß der andere nochmal? Maggie hatte es ihm gesagt! Flo? Bob? Ben?

Ben! Benjamin, half ihm John trotz ihrer Meinungsverschiedenheit auf die Sprünge.

„Hallo“, in einer flüssigen Bewegung wies er auf die Straße, die vom Dorf wegführte, „Bin gerade vorbeigekommen.“

„Ehm. Ja. ‘Tschuldige. Hab dich nicht gesehen“, Paul kam unschlüssig näher.

Stimmte ja. Er hatte sich einmal umgesehen, ehe er aus dem Haus getreten war. Und direkt vor der Tür war eine große Wiese. Da hätte er TJ eigentlich nicht übersehen können.

Wenn dieser denn gelaufen wäre.

„Du hast uns zu Tode erschreckt!“, lachte der andere nun aus – er gab sich locker, nebensächlich, doch seine Augen blieben wachsam.

Oder bildete TJ sich das nur ein? Er war es so sehr gewohnt, dass alle um ihn herum nur Übles im Sinn hatten. Ob das eine Berufskrankheit war?

„Ihr habt jemanden bei euch aufgenommen“, erklärte er daher direkt zum Punkt kommend, „Brünettes Mädchen, sehr still und-“

„Keine Ahnung, wen du meinst“, dieser Paul baute sich wie eine Barriere vor ihm auf, „Wenn das alles ist, zieh Leine.“

Das … Hat er das gerade wirklich gesagt?!, John kugelte sich lachend durch ihren Kopf und Tarek drängte ihn genervt beiseite.

„Ach, wirklich?“, fragte er stattdessen gereizt.

„Wirklich. Und nun hau ab.“

Vom Tonfall des älteren Waisenjungen angestachelt, stellte sich nun auch der Jüngere mit verschränkten Armen daneben. Beide bildeten eine Mauer vor der Eingangstür zum Gebäude.

Eine Mauer, die TJ genauso überwinden könnte, wie die Distanz vom Wald hierher. Aber … sie waren unmagisch. Solange es nicht nötig wäre …

„Wie du meinst. Ich wollte euch eh nur warnen: Man weiß nie, wer einen des Nachts in die Enge treibt. Deswegen sollte man sich vielleicht genauer ansehen, wen man abends in sein Haus lässt … oder?“, mit einer angedeuteten Verbeugung lief er um das Haus herum und blinzelte sich hinein, sobald er außer Sicht war.

Er hörte, wie die beiden Jungen nach ihm suchten. Sie diskutierten miteinander. Sollten sie jemanden Bescheid sagen? Ihrer Ma, der Betreuerin? Sollten sie mit Mag reden? Dem schweigsamen Mädchen, das Paul reingelassen hatte? Aber so böse wirkte sie doch nicht … oder?

Kopfschüttelnd strich TJ über die Klinge an seinem Gürtel und schloss die Augen. Ein Teil von ihm bereute die Worte, die er an die Waisen gerichtet hatte. Jedoch … Es wäre besser so, oder?

Gedanklich tastete er nach der Markierung bei dem Mädchen. Wenn er schon hier wäre, könnte er auch nach ihr sehen. Außerdem würden die beiden Unmagischen bestimmt nicht in Maggies Zimmer nach ihm suchen.

Damit blinzelte er sich ins Unbekannte. Er tauchte neben ihr auf. Mit auf ihrem Bett sitzend. Den Blick erst auf sie, dann auf das Buch in ihren Händen gerichtet.

Waren alle Seiten leer?

„Was ist das?“, fragte er, als sie nicht grüßte.

Ob sie uns gehört hat? Ist sie sauer? Du hättest nicht-

Ruhe, John!, wies er sein anderes Ich zurück.

Warum kümmerte er sich eh so stark um die Gefühle dieses Mädchens? Klar, die Reaktion der anderen Jungen hätte besser ausfallen können und vielleicht hätte er sich lieber raushalten sollen, aber …

Das Mädchen vor ihm war keine Freundin. Sie … Sie waren nur durch eine Abmachung aneinander gebunden. Nichts weiter …

„Ein … Scrapbook. Ich soll es vollschreiben … wie ein Tagebuch, um nichts mehr zu vergessen oder so …“, hilflos blätterte sie durch die leeren Seiten, „Dabei habe ich doch keine Ahnung von so etwas“, murmelnd schlug sie die erste Seite auf, „Finde deinen Weg nach vorne blickend – nicht zurück.“

Nach … vorn.

Gedankenverloren betrachtete TJ die Worte.

Ja. Wenn er nicht nach vorn gesehen hätte … Er hätte Maggie bei ihrem ersten Treffen ermordet. Er hätte mit ihr nicht über seinen toten Vater gesprochen. Er hätte sie immer noch für seine Feindin gehalten. Diese Worte …

„Ziemlich poetisch“, er lehnte sich gegen den Tisch, „Was meinst du dazu?“

Mit geschlossenen Augen lehnte sie sich an die Wand. Sie wog den Kopf hin und her, sodass er sich nicht sicher sein konnte, welche ihrer Seelen antworten würde. Die Verspielte? Die Griesgrämige? Oder die Ruhigere?

„Ich weiß nicht … Braucht man nicht eine Vergangenheit, um sich für eine Zukunft entscheiden zu können? Ich … ich möchte mich erinnern. Aber ich weiß nicht, woran ich mich erinnern möchte. Alles … Alles zu wissen, wäre hingegen zu viel. Es wäre … beengend?“

Sie schaute ihn aus ihren braunen Augen an. Maggie. Aber auch grün war aufgeflammt. Dann war Alice ihrer Meinung? Was war mit Valerie?

Ehe er sie hinterfragen konnte, schlüpfte Gakumon durch das angelehnte Fenster und schubste versehentlich seine Schwester vom Fensterbrett. Polternd rollten sich die beiden über die Dielen, bis Maggie ihren Streit schlichtete.

Besonnen setzte sie beide auf ihr Bett und kuschelte mit Gakumons verschlafenen Spiegelbild. Yuki hingegen leckte entschuldigend über die nackten Arme des Mädchens.

Blutige Krallenabdrücke zierten die nackte Haut.

Du, Tarek? Können wir bitte unser Gespräch mit den beiden Jungs für uns behalten? Sie würde nie irgendjemanden willentlich verletzen! Wenn sie aber von unseren Sorgen erfährt, dann … Ich möchte nicht, dass sie enttäuscht ist. Dafür ist sie eine zu gute Freundin geworden.

FREUNDIN?!, Tarek erstarrte innerlich.

Ehm … Doch nur Bekannte?, ruderte John eilig zurück.

„Wir müssen los. Hätte nicht kommen sollen“, presste er angestrengt hervor und sammelte Gakumon ein.

Er verschwand hastig aus ihrem Zimmer. Zu wütend, um noch einen Abschied über die Lippen zu pressen. Er musste da raus! Raus, aus diesem erstickenden, winzigen Zimmer, dem jegliche Luft fehlte und-

„TJ? Alles gut?“, fragend wand sich sein Freund aus dessen Griff.

„Ich … weiß nicht … Noch nicht“, damit machte er sich auf den Weg. Er musste. Er brauchte die Bewegung. Sie war Balsam für seine Seele.

Als könnte sie ihm helfen, vor John und seinen eigenen Gedanken zu fliehen.

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