
„Mit meinen Eltern ist alles geklärt. Ich bleib heute Nacht hier, damit wir ein Gruppenprojekt fertig bekommen. War die beste Ausrede, okay?“, murmelte Shiloh, während sie ihr Handy weglegte und den letzten Bissen ihrer Pizza verschlang.
„Hm“, Liane zuckte mit den Schultern.
Ihr eigenes Essen lag noch fast vollständig im Karton. Es fehlte nur ein Stück. Das, welches sie ihrer Freundin überlassen hatte.
„Wir können immer noch die Polizei rufen und-“
„Nein“, entschlossen schüttelte Liane den Kopf, sodass ihre Zöpfe umherpeitschten, „Nein. Ich … Ich glaube nicht, dass sie wiederkommt. Das würde keinen Sinn machen.“
„Du meinst, weil sie Geld dagelassen hat?“, Shiloh lehnte sich gegen das Bett. Sie hatten es sich auf dem Teppich gemütlich gemacht. So waren sie nicht durch das Fenster zu erblicken.
„Es wirkte wie eine Entschuldigung. Für den kaputten Blumentopf“, erschöpft schob Liane den Pizzakarton von sich und umarmte ihre Beine.
Wieso war das Leben nur so kompliziert?
„Ich weiß nicht …“, ihre Freundin krabbelte ins angrenzende Bad, „Meinst du nicht, dass das ein wenig blauäugig ist?“
Blauäugig? Vielleicht. Aber … Wieso fühlte es sich so richtig an? Warum war ihr Bauchgefühl so seltsam?
Seufzend stand Liane auf und riskierte einen Blick aus dem Fenster. Die Straßenlaternen warfen ein warmes Licht auf die Umgebung. Niemand war zu sehen. Kein Auto. Kein Spaziergänger. Kein Tier.
Es wirkte so einsam.
„Ist es schlimm, blauäugig zu sein?“, fragte Liane und lehnte sich an die Wand neben dem Fensterbrett.
Shiloh war noch nebenan. Sie hatte die Badtür nur angelehnt. Dahinter plätscherte das Wasser aus dem Hahn.
„Solange man es weiß? Nicht unbedingt. Wenn nicht kann es aber gefährlich werden. Dafür sind die meisten Menschen zu egoistisch.“
Ja. Das hatte sie auch schon bemerkt. Wenn die Menschen nur ein wenig mehr, wie … wie …
Gepeinigt schloss Liane die Augen.
Mit wem wollte sie die Menschen vergleichen? Ihr lag doch gerade noch ein Name auf den Lippen! Er war da gewesen! Sie hatte ihn doch gezeichnet! Das Wesen mit den Hörnern, das-
Ruckartig blickte sie zu ihrem Schreibtisch herüber.
Die Skizzen waren fort.
Wo waren sie? Sie hatte sie doch dort liegen gelassen, oder? Sie waren hier gewesen! Sie hatte den Stapel umgedreht auf dem Tisch liegen gelassen, ehe sie sich unten Essen machen wollten. Die Blätter hatten dort gelegen!
Stattdessen ruhte nun ein dünner Umschlag dort.
„Oder was meinst du?“, drangen Shilohs Worte herüber.
„Kann … schon sein“, erwiderte sie abwesend.
Sie konnte sich nicht auf ihre Freundin konzentrieren.
Vorsichtig las sie den Umschlag auf. Nein. Das war der Brief! Er war so gefaltet worden, dass er die Nachricht verbarg. Sie kannte diese Faltung. Woher, wusste sie nicht zu beschreiben. Sie war ihr einfach vertraut.
So vertraut …
Wie von Geisterhand fanden ihre Finger die Lücken, an denen sie ziehen musste. Das Papier entknotete sich so spielend leicht. Es war, als würden ihre Hände täglich dutzende davon öffnen. Als würde sie-
Ein dreizehnzackiger Stern blickte sie an.
Er war von Hand gezeichnet. Etwas schiefer, als ihre eigenen. Dennoch musste sie die Spitzen nicht nachzählen. Es war wie ein Buchstabe, der sich in ihren Kopf eingebrannt hatte. Der sie verfolgte und die Erinnerungen wachhielt.
Bitte lass die Vergangenheit ruhen, Lilith. Es ist zu früh. Gönn dir ein Leben und ich kümmere mich um den Rest. Lass mich mein Versprechen halten – Chemy.
Chemy? Wer oder was war Chemy? Stimmt. Was! Chemy … Chemy war kein Mensch, oder? Chemy …
Er hatte sie Lilith genannt.
Lilith …
Erneut wanderten ihre Gedanken zurück. Zu der Nacht, als ihr Haus in die Luft geflogen war. Der andere Mann … Nein. Das war kein Mann gewesen. Kein Mensch … Oder doch?
War das Chemy gewesen?
Langsam setzte sie sich auf ihr Bett und starrte zur Badtür herüber. Shiloh erzählte gerade irgendetwas. Aber sie konnte die Worte nicht verarbeiten. Sie waren an Liane gerichtet.
Nicht an Lilith.
Lilith …
War sie Lilith? Der Name fühlte sich vertraut an. Aber … wenn Chemy kein Mensch war und sie sich von einem Omen mit dreizehn Zacken verfolgen ließ … waren sie dann Dämonen? Es gab doch eine Lilith in der Bibel, oder? Sie hatte davon gelesen. Diese erste Frau Adams! War sie nicht verflucht worden?
Bitte lass die Vergangenheit ruhen, Lilith. Es ist zu früh.
Sie las die ersten Sätze noch einmal. Wozu war es zu früh? Was sollte geschehen? Und warum sollte sie sich ein Leben gönnen? Das klang fast so, als ob sie ansonsten eingesperrt wäre. Eingesperrt … Nicht in einem Käfig sondern von … Konnte man auch von Erwartungen eingesperrt werden? Von Versprechungen?
Versprechen …
Welches Versprechen meinte Chemy?
Je länger ihre Augen die krakelige Schrift betrachteten, desto mehr Vertrauen fasste sie in die Worte. Sie wirkten so familiär. Ja. Chemy … Chemy war kein Fremder. Chemy …
Hatte er nicht auf sie aufpassen wollen? War das sein Versprechen? Nein. Nicht ganz. Da war noch etwas anderes. Etwas … Was?!
Schaudernd faltete sie den Brief wieder zusammen. Dann auf. Zu und auf. Zu und auf. Sie brauchte die Beschäftigung. Solange ihre Finger sich bewegten, würden sie nicht zittern. Sie würden nicht-
„Alles gu- Scheiße! Wieso weinst du?“
Shilohs Fragen rissen sie zurück. Verwirrt tastete sie nach ihren Augen. Sie waren wirklich nass. Sie spürte, wie Sorgen von ihrer Freundin ausgingen. Sorgen und … Argwohn? Sah sie sich deswegen so seltsam um? Erwartete sie, dass jemand im Zimmer auftauchte?
„Gedankenkarussell“, erwiderte sie langsam und steckte den Brief ein, „Wird bestimmt schon wieder.“
„Ist dein Vater aufgekreuzt?“, flüsterte Shiloh und lugte aus dem Fenster, „Ich kann auch mit ihm reden, weißt du? Du siehst echt bescheiden aus.“
„Hm…“
„Hm?“, wiederholte ihre Freundin, „Lia? Alles gut?“
Lilith, wollte sie das andere Mädchen korrigieren. Nicht Lia oder Liane. Ihr Name war Lilith! Lilith!
Stattdessen schluckte sie jeglichen Widerspruch runter.
Das war schräg. Seltsam. Krankhaft! Genau! Sie war Liane Rivers! Ihre Mutter war tot. Ihr Vater ein alleinerziehender Helikopter. Sie musste mit den Fantasien ihrer Kindheit abschließen. Sie musste sie ausblenden. Abschütteln!
Aber wollte sie das wirklich?
Der Zettel in ihrer Hosentasche wog so schwer auf ihrer Seele. Ein Teil von ihr wollte diesen Chemy suchen. Sie wusste, dass er sie nicht abweisen würde. Aber ein anderer Teil …
Nachdenklich blickte sie zu Shiloh. Shiloh. Oliver. Ihr Vater. Sie alle kannten nur Liane. Und bei den dreien fühlte sie sich wohl. Vor allem bei Oliver. Wenn sie jedoch diesen Chemy aufsuchen würde …
Würde sie die drei verlieren?
„Ich habe Angst“, hauchte sie ihrer Freundin entgegen.
Wortlos zog die andere sie in eine feste Umarmung. Sie strich über ihren Rücken, sprach geduldig auf sie ein, blieb bei ihr.
Und zum ersten Mal seit über einem Jahr konnte sich Liane entspannen.