Timothy – Die Zeit läuft davon …

Ich fand Jane bei den Pferden. Sanft sprach sie auf die Tiere ein, während sie ihnen ihr Frühstück gab. Dabei streichelte sie die dürren Hälse und bedankte sich bei den Wesen.

Nie zuvor hatte ich jemanden gesehen, der so zärtlich mit Tieren umging!

„Wie kannst du so gelassen bleiben, wenn sie deinen Tod zum Morgengebet verlangen wollen?“, platzte es aus mir heraus.

Die Zeit lief ihr davon!

„Was passieren soll, wird eh geschehen. Meine Sorgen werden nichts daran ändern“, erklärte sie so leise, so schwach.

Aber dennoch zitterte ihre Stimme.

Gut. Das bedeutete, dass sie weiterleben wollte, oder? Es musste. Sie musste!

„Ich bin heute Nacht zum Pfarrer“, sie zuckte zusammen, also sprach ich eilig weiter, ehe sie auf falsche Gedanken käme, „Nur um zu verstehen. Also. Nicht nur. Erst- Ich war so wütend! Aber ich habe nichts gemacht. Wirklich! Ich …“, obwohl ich keine Luft brauchte, atmete ich trotzdem durch, „Ich habe Briefe gefunden. Mit grünen Siegeln. Irgendeine Gruppe verlangt regelmäßig die Stellung von Hexen bei euch, damit die restlichen Leute in ihrem Glauben bestärkt werden und sich nicht von der Kirche abwenden. Die Angst soll sie an den Glauben binden. Deswegen … Es wird keinen ehrlichen Prozess geben. Dieser Pfarrer, er-

Gott mag vielleicht gut sein, aber diese Leute und euer Pfarrer sind es nicht. Bitte! Du musst fliehen! Du. Musst!“

Endlich hielt sie inne. Jane lehnte den Kopf gegen den Hals eines Pferdes. Ihre Schultern zuckten sachte. Beinahe schämte ich mich, sie so bedrängt zu haben. Aber sie musste es wissen! Sie musste weg von hier! Sie musste-

„Timmy … Selbst wenn ich fliehen könnte … Wo sollte ich hin? Zu Fuß käme ich nicht mal bis ins nächste Dorf und allein … Allein überlebe ich da draußen nicht. Was heute auch passieren mag, ich muss mich alledem stellen …“, endlich blickte sie mich wieder an – wenn sie mich hinter all den Tränen überhaupt sehen konnte, „Ich habe keine Wahl.“

Am liebsten wollte ich Jane widersprechen. Aber auf welcher Grundlage? Sie hatte Recht! Sie brauchte Essen, Trinken, Wärme … Wieso hatte ich das nicht erkennen können? War ich schon zu lange tot?

Zum ersten Mal wurde mir bewusst, wie dünn sie doch war. War es mir vorher nicht aufgefallen? Oder hatte ich es einfach ignoriert? Und ihre Lippen … Sie wirkten immer etwas blasser, als gesund sein sollte. Waren ihre Anziehsachen zu dünn? Wieso waren ihre Augenringe so dunkel? Hatte sie in der letzten Nacht überhaupt geschlafen? Seit wann war sie bei den Pferden?

„Sie haben schon andere vor dir ermordet“, entflohen mir die Worte ohne mein Zutun.

Sie grub ihren Kopf in die Mähne des alten Pferdes. Irritiert wandte sich das Tier ihr zu. Es schien zu mir herüber zu sehen. Dann schnaubte es.

„Ich weiß … Jedes Jahr … Jedes Jahr wird jemand verbrannt … Vor drei Jahren war es meine Mutter gewesen“, murmelte sie in die Halsbeuge, „Sie haben sie vor die Kirche gezerrt. An ihren Haaren. Dort wurde der Scheiterhaufen aufgebaut und-“, Jane erschauderte und mir war, als drehte sich die Welt um, „Es war so schrecklich. Mama hatte die ganze Zeit geschrien. Sie hat um Erlösung gebeten. Um Hilfe. Sie hatte gebetet und gebettelt. Und die anderen … selbst mein Vater … Sie haben sie alle nur verflucht. Vater hat mich danach täglich zum Pfarrer gebracht. Ich sollte so oft beten und den Predigten lauschen, wie ich nur konnte. Damit ich keine Hexe werde. Damit ich … Ich durfte nicht … Ich muss … Gott hat für jeden einen Plan … Ich muss fromm sein, ich muss-“

„Du. Musst. Leben!“, schrie ich aus – mehr ließ der Knoten in meinem Bauch nicht zu.

Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal so viel Hass auf jemanden verspüren konnte. Aber dieser Pfarrer … Er war für mich der Inbegriff des Teufels geworden.

„Ich möchte es au-“

Schatten tanzten durch die Scheune.

„Möchtest du? Oder willst du?“, ich tanzte um sie herum und unruhig wieherten die Pferde, eines bäumte sich sogar auf, als ich ihm zu nah kam.

„Ich-“

„Du, was? WAS?!“, verlangte ich zu wissen und wank mit den Armen umher.

„Ich will!“, schrie sie mir entgegen und schlug sofort eilig die Hände vor den Mund.

„Gut“, ihr Ausbruch gab mir die Sicherheit, die ich benötigte.

„Ich hätte nicht so laut sein sollen“, murmelte sie, „Ich hätte nicht-“

Draußen unterhielten sich einige Stimmen. Schritte näherten sich. Die Zeit lief uns davon. Wir brauchten eine Lösung, ehe das Morgengebet anfing. Ehe-

Mein Blick fiel auf die vergessene Lampe in einer Ecke. War sie in meiner Wut auch aufgeflackert? Genau wie die Kerze beim Pfarrer? Könnte ich das Feuer nochmal so tanzen lassen?

Ohne Jane zu beachten, lenkte ich meinen Hass durch die Scheune. Ich dachte an das Gespräch aus der letzten Nacht. Ich dachte an Jane. An ihre Mutter. Bestimmt wäre ihr Leben besser verlaufen, wenn man ihr die Frau nicht genommen hätte. Es war alles die Schuld dieses Pfarrers!

Dieser heuchlerische Mistkerl!

Mit einem Zischen brannte der Docht wieder.

„Timmy?“, fragend schaute Jane zu mir herüber, doch flog da bereits die Tür auf.

Eilig schluckte ich meinen Zorn und meinen Hass runter. Die Gleichgültigkeit löschte die Lampe, ehe es jemanden auffallen konnte. Alles andere wäre gefährlich gewesen.

Ich musste es mir für das Morgengebet aufsparen.

„Wenn du leben willst“, flüsterte ich Jane zu, als sie gerade ihre Anwesenheit bei den Pferden erklärte und mit den Männern zur Kirche lief, „Dann höre auf mich. Setze dich nach vorn – nach ganz vorn. Ich … Ich werde dafür sorgen, dass jeder heute seine Ernte einholt.

Ich werde dafür sorgen, dass du nicht wie deine Mutter endest.“

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