
„Du bleibst bis Schulschluss hier. Verstanden? Wenn dich jemand anderes abholen möchte, gehst du nicht mit. Nicht bei Papa, nicht bei Oma, nicht bei Opa. Ja?“, Jennifer drückte ihre Tochter an sich.
„Hm“, ihre kleine Flocke klang nicht begeistert.
„Bitte, Ann. Mama und Papa müssen heute zur Richterin. Wir müssen-“
„Du willst Papa ersetzen“, behauptete ihre Tochter und wandte sich aus der Umarmung, „Das ist nicht fair … Warum können wir nicht wieder alle zusammen sein? Wir sind doch eine Familie …“
Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. Sie war so zart, so zerbrochen, so hilflos … Es brach Jennifer das Herz.
Aber es musste sein. Marius hatte sie verraten. Er war fremdgegangen. Er hatte sie beide beiseite geworfen!
Er hatte Jennifer hierzu gezwungen.
„Ann … Wir haben darüber gesprochen. Pa- Er wollte uns nicht mehr. Er hat sich eine andere Frau ausgesucht. Wir-“
„Woher willst du das wissen? Du hast dir doch auch einen neuen Freund gesucht! Den Typen mit der Sonnenbrille! Warum-“
„Ann!“, unterbrach sie ihre Tochter scharf und wies mit strengem Blick auf die Eingangstür der Schule, „Es reicht. In den Unterricht mit dir. Sofort!“
Die Unterlippe ihrer kleinen Flocke bebte. Dennoch widersprach das Mädchen nicht. Sie nickte nur. Wohlwissend, dass sie es ansonsten zu weit treiben würde.
Jennifer schämte sich.
Sie hatte nicht so harsch reagieren wollen. Nein. So fühlte sie sich wie ihre eigene Mutter! Das wollte sie nicht. Es würde sie nur auseinander reißen und-
Das Handyklingeln unterbrach ihre Gedanken. Erschöpft zog sie es hervor und ging ran. Sie musste nicht auf den Bildschirm sehen. Es hatten eh nur drei Leute ihre Nummer.
Und nur einer davon rief Jennifer jeden Morgen von einem Münztelefon aus an.
„Wie geht es dir?“
„Übelkeit, Aufregung, Stress“, fasste sie knapp zusammen, „In zwei Stunden ist die Verhandlung … Ich wünschte, du könntest dabei sein.“
„Tut mir leid“, gab John zurück.
John. So hatte sich der Mann mit der Sonnenbrille vorgestellt, als er vor ihrem Hotelzimmer auftauchte. Damals hatte er einen Umschlag aus seinem Koffer gezaubert. Er hatte darauf bestanden, dass es für sie wäre. Dass sie und Ann jede Hilfe gebrauchen konnten.
Jennifer hatte damals ihren Augen kaum glauben können: Arbeitsvertrag, Wohnungsvertrag und ein Startkapital von fünf Riesen lagen für sie bereit.
Es hatte sie umgehauen.
Als sie wieder zu sich kam, frisierte Ann ihrem Besucher gerade die Haare. Panisch hatte sie John aus den Fängen ihrer Tochter befreien wollen, nur … machte es ihm nichts aus. Er kenne es. Seine Schwester war früher noch energischer gewesen.
Verdutzt hatte sie genickt.
Gemeinsam hatten sie die neue Wohnung hergerichtet. Jennifer hatte sich noch nie zuvor irgendwo so wohl gefühlt. Selbst bei ihrem neuen Job in einer Boutique wusste sie sich schnell zurecht zu finden. John kam sogar jedes Wochenende vorbei, um nach ihnen zu sehen. Es lief alles so perfekt!
Bis Anns Heimweh einsetzte.
Sie vermisste Marius. Und dass er immer wieder vor der Schule auftauchte, um Ann abzufangen, half überhaupt nicht! Immer mehr sah ihre Flocke John nicht als einen Retter sondern als einen Ganoven, der ihre Familie verriss.
„Ich werde es schon irgendwie hinkriegen. Die Verhandlung ist nur für eine halbe Stunde angesetzt. Es muss klappen … Hoffe ich“, ihre Stimme zitterte und hastig schob sie das Telefon in die andere Hand und lief los.
Sie brauchte Bewegung.
„Du machst dir trotzdem Sorgen“, es klang wie eine Frage.
„Hm.“
Ein paar lachende Kinder liefen ihr entgegen. Dahinter ein Vater, der sein Kind auf den Schultern trug und die Mutter mit der Schultasche.
Hastig schloss sie die Augen.
„Ich muss derzeit noch auf jemanden … aufpassen. Ist kompliziert. Sobald sein Bruder zurück ist, wollte ich meiner Schwester reinen Wein einschenken. Dann kann ich zu euch ziehen“, erklärte er.
Unbewusst strich Jennifer über ihren Bauch: „Kim, oder? Ich freue mich darauf.“
„Ja“, er lachte, „Aber bitte nimm ihr ihre Mundart nicht übel. Sie ist ein ziemlicher Freigeist.“
„Ich bemühe mich“, sie seufzte leise, „Ich liebe dich.“
„Ich dich auch.“
Das Tuten beendete ihr Gespräch und beinahe traurig steckte sie ihr Telefon in die Tasche zurück. Ihre Finger glitten kurz über die Unterlagen, die sie für die Verhandlung eingepackt hatte. Daneben ein weißer Plastikstreifen.
Zwei pinke Linien verzierten das Gehäuse.
Jennifer atmete tief durch, ehe sie sich auf den Weg zur Verhandlung machte. Lieber zu früh als zu spät da sein. Mit einem Anwalt hatte John ihr nicht weiterhelfen können. Deswegen musste sie sich selber vertreten. Stundenlang hatte sie sich durch Gesetzbücher gekämpft. Meist abends, wenn ihre kleine Flocke schon schlief.
Sie hoffte nur, dass es nicht umsonst gewesen war.
„Jenny“, grüßte Marius sie, als er kurz vor der Verhandlung auf sie zuschritt.
„Ich habe dir nichts zu sagen“, erwiderte sie stur.
Ja. Sie durfte sich nicht offen zeigen. Nicht, während seine Anwälte oder der Familienrichter sie erblicken konnten. Nein. Sie musste stark sein. Für Ann!
„Ich weiß nicht, wie du immer noch behaupten kannst, dass ich fremdgegangen bin. Ich war euch immerzu treu. Nein. Ich bin es selbst jetzt noch“, er seufzte, „Was soll das, Jenny? Was habe ich dir getan?“
Angestrengt schloss sie die Augen. Sie durfte nichts sagen. Sie musste ihre Distanz wahren. Sie musste-
„Wenn ich bitten dürfte“, grüßte eine ältere Frau und schloss das Büro auf.
Sofort schlüpfte Jennifer hinein und visierte den Tisch auf der linken Seite an.
Marius wählte mit seinem Anwalt den Tisch daneben.
„So“, die Richterin ließ sich auf ihrem Stuhl nieder, „Wir haben uns hier für die Verhandlung in der Familienangelegenheit Weiss versammelt. Scheidung und Sorgerecht sollen diskutiert werden. Ist das korrekt?“
Alle gaben ihre Zustimmung. Dabei rann ein Zittern durch Jennifers Körper. Die Aufregung erdrückte sie. Sie musste die Ruhe bewahren. Gefasst bleiben. Dennoch …
Es ging um alles oder nichts.
„Gut. Alle Unterlagen wurden fristgerecht eingereicht. Ich habe …“, sie begann Formulare aufzulisten, die zur Entscheidung herangezogen wurden. Darunter Jennifers Anträge auf Scheidung und das alleinige Sorgerecht. Dann ein Schulgutachten von ihrer Ann und die Anträge von Marius. Er bat um ein psychologisches Gutachten von Jennifer, um das alleinige Sorgerecht, die Scheidung solle ausgesetzt werden. Stattdessen wäre eine Annullierung sinnvoller.
Er wollte doch bloß kein Unterhalt zahlen!
„… und eine Zeugenanhörung“, endete die Richterin.
Huh? Überrascht blätterte Jennifer durch ihre eigenen Papiere.
„Euer Ehren? Eine Zeugenanhörung wurde mir nicht zuvor angekündigt“, bemerkte sie vorsichtig.
„Da Zeugenaussagen als elementar gelten, dürfen sie auch während einer Sitzung angekündigt werden, solange sie keine Gefahrensituation für die Beteiligten des Prozesses darstellen“, wies die Richterin schroff zurück, „Jedoch müssen die Zeugen dafür auch anwesend sein.“
Marius‘ Anwalt nickte und begab sich zurück zur Tür.
„Frau Todd?“, fragte er in den Flur.
Jennifer verkrampfte sich.
Ihre Mutter sollte aussagen? Warum? Was hatte die Frau hier zu such-
Neben ihrer Mutter trat Ann in das Büro. Sie wirkte so klein. So ängstlich.
Und dann fiel ihr Blick auf Marius.
„Papa!“, wie ein Komet warf sie sich in seine Arme. Es schmerzte. Vor allem, weil ihre Flocke wieder ihre alte Puppe in den Händen hielt. Nicht die neue. Nicht die, die Jennifer extra für sie verschönert hatte.
„Verzeihung, Euer Ehren, aber Ann gehört in die Schule. Sie kann keine Aussage tätigen. Sie-“
„Es ist ihr bürgerliches Recht in den Zeugenstand zu treten“, unterbrach die Richterin scharf.
Jennifer schluckte.
„Annabel Weiss“, wandte sich die Frau sanftmütig an das Kind, „Möchtest du in den Zeugenstand treten und uns einige Fragen beantworten?“
Zögerliches Nicken.
Ängstlich beobachtete Jennifer, wie ihre Tochter nach vorn trat. Sie hörte die Fragen von Marius‘ Anwalt kaum. Nur die dünne Stimme ihrer Tochter, die viel zu leise mit ja oder nein antwortete.
Bis Ann sie nach der letzten Frage hasserfüllt ansah.
Jennifer hatte nicht gehört, was der Anwalt gesagt hatte. Sie hatte nicht zuhören können. Dafür war sie zu besorgt gewesen. Sie wollte nicht, dass ihre kleine Flocke in den Streit hinein gezogen wurde.
Sie wollte doch nur ihr Baby in die Arme schließen!
„Ich versteh nicht, warum Mama und Papa sich streiten. Mama sagt, dass Papa eine andere Frau gefunden hat und uns nicht mehr liebt. Aber dann würde Papa mir keine Briefe in meinen Spind werfen, in denen er schreibt, wie sehr er uns liebt und vermisst! Wenn Papa sich neu verliebt hat, warum trifft dann Mama immer diesen komischen Mann? Ich habe gesehen, wie sie sich geküsst haben! Ist es dann nicht eher Mama, die Papa für einen anderen Mann verlässt? Warum soll Papa der Böse sein? Ich verstehe es nicht! Ich … ich will nur zu meinem Papa!“
Eilig sprang Marius auf und schloss Ann in seine Arme. Er schaute zu Jennifer herüber. Nicht wütend. Nicht sauer. Nur verletzt.
So verletzt …
„Jenny … Du …“
Der Schwangerschaftstest in ihrer Tasche fühlte sich plötzlich so schwer an.
Dennoch bekam sie kein Wort heraus.
„Euer Ehren, meine Tochter erscheint mir psychisch instabil. Sie sollte-“
„Misch dich nicht ein!“, fuhr Jennifer ihre Mutter an.
„Sehen Sie? Sie scheint nicht mehr sie selbst zu sein. Welche Tochter würde so mit ihrer eigenen Mutter reden?“
Zitternd umklammerte sie ihre Papiere. Sie sah wieder zu ihrer kleinen Flocke. Zu Marius. Zu seinem immer noch verletzten Blick.
War er etwa … wirklich nicht fremd gegangen? Hatte er die Wahrheit gesagt? Aber … aber dann …
Hatte sie ihre Ehe zerstört?
Nein. In ihrer Beziehung hatte es keine Liebe mehr gegeben. Genau. Ansonsten wäre sie nicht so misstrauisch geworden. Sie hatte die Wahl gehabt:
Weiter eine Farce leben oder die Trennung?
Sie musste es durchziehen.
Und wenn Ann lieber bei ihrem Papa bleiben wollte … Jennifer wäre jederzeit bereit, um ihre Tochter zu kämpfen, aber … wenn ihre kleine Flocke sich bereits entschieden hatte … Sie hatte es doch schon am Anfang vermutet, dass sie Ann verlieren würde. Ihre Tochter würde immer Marius wählen. Immer! Nur … Wenn dieser Streit noch länger anhalten würde …
Würde ihr kleines Mädchen es noch ertragen können?
„Ich … ziehe mein Antrag auf alleiniges Sorgerecht zurück … wenn du der Scheidung zustimmst“, krächzte sie hervor.
Marius schloss die Augen.
Dann nickte er.
Abrupt wandte sie sich ab. Sie unterschrieb die Formulare der Richterin wortlos. Alles fühlte sich wie ein Alptraum an. Wie ein schauriger Alptraum, aus dem es kein Entrinnen gab.
„Mama?“, fragte Ann nachdem die Auflagen verkündet wurden, „Mama … Bitte nicht …“
Ihre viel zu kleine Hand streckte sich in Jennifers Richtung. Am liebsten hätte sie ihre kleine Flocke an sich gepresst. Sie nie wieder losgelassen.
Sie war doch ihr Baby!
Aber sie hatte dem Kontaktverbot zugestimmt.
„Pass auf dich auf, ja?“
Damit ging sie.