Timothy – In grauen Augen …

Fast zehn Jahre wachte ich über Jane. Ich beobachtete, wie der Exorzist sich von ihr verabschiedete. Ich blieb bei ihr, als ihr Vater im darauffolgenden Winter an einem Husten verstarb. Und ich folgte ihr wie ein Schatten, als ein altes Ehepärchen aus dem Dorf sie aufnahm.

Dennoch konnte sie mich nicht sehen.

Manchmal glaubte ich, dass sie meine Anwesenheit spüren musste. Dass sie bemerkte, wie ich hilflos die Hand nach ihr ausstrecken wollte. Sie hielt dann immer ganz kurz inne. Sie schien etwas sagen zu wollen. Sich zu entspannen. Sich in meine Richtung zu lehnen.

Nur um dann weiter zu machen.

Ich war zu einem vergessenen Traum verkommen.

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Timothy – Die Ernte …

Unruhe erfasste mich, als die große Tür hinter Jane zufiel. Ich wollte sie nicht aus den Augen lassen, aber ich musste mich auch sammeln. Ich musste meinen Zorn richtig lenken. Ich brauchte ihn!

Der Exorzist stapfte durch den Schnee an mir vorbei. Ich beobachtete, wie er sich kurz abklopfte, ehe er die Kirche betrat. Er wirkte so gefasst. So gelassen.

Ich musste ihn mir zu Nutze machen!

Entschlossen schwebte ich durch die Mauern und setzte mich auf das Podest. Genau hinter den Pfarrer. Wie geduldig der Mann doch auf die Dorfbewohner wartete. Als wollte er sein Publikum vollständig wissen.

Dennoch huschte sein Blick immer wieder zu Jane, die sich in der ersten Reihe niedergelassen hatte. Ich konnte Unsicherheit in seinem Blick erkennen. Warum? War er noch von meiner morgendlichen Anwesenheit verängstigt?

Erst als der Exorzist sich neben ihr niederließ, schien sich der Pfarrer zu beruhigen.

Vorerst.

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B: Ein nächtlicher Besucher II

„Mit meinen Eltern ist alles geklärt. Ich bleib heute Nacht hier, damit wir ein Gruppenprojekt fertig bekommen. War die beste Ausrede, okay?“, murmelte Shiloh, während sie ihr Handy weglegte und den letzten Bissen ihrer Pizza verschlang.

„Hm“, Liane zuckte mit den Schultern.

Ihr eigenes Essen lag noch fast vollständig im Karton. Es fehlte nur ein Stück. Das, welches sie ihrer Freundin überlassen hatte.

„Wir können immer noch die Polizei rufen und-“

„Nein“, entschlossen schüttelte Liane den Kopf, sodass ihre Zöpfe umherpeitschten, „Nein. Ich … Ich glaube nicht, dass sie wiederkommt. Das würde keinen Sinn machen.“

„Du meinst, weil sie Geld dagelassen hat?“, Shiloh lehnte sich gegen das Bett. Sie hatten es sich auf dem Teppich gemütlich gemacht. So waren sie nicht durch das Fenster zu erblicken.

„Es wirkte wie eine Entschuldigung. Für den kaputten Blumentopf“, erschöpft schob Liane den Pizzakarton von sich und umarmte ihre Beine.

Wieso war das Leben nur so kompliziert?

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B: Die Zeichnungen

„Papa?“, rief Liane durch das große Haus, „Ich bin wieder da!“

Eine ungewohnte Stille antwortete ihr. Sie fühlte sich vertraut und gruselig zugleich an. Wie eine unförmige Erinnerung.

Unsicher stellte das Mädchen ihre Schuhe neben der Tür ab und schlich sich in die Küche. Alles andere wäre ihr falsch vorgekommen. Sie wollte hier keinen noch so kleinen Mucks von sich geben. Jedes Rascheln erschien ihr so endlos laut. Jeder Schritt wie Hufgetrampel. Es hatte etwas von einem Gewitter, das sich über ihr zusammenbraute.

Schaudernd trat Liane in die Küche. Sie mochte keine Gewitter. Wenn der Himmel die Beherrschung verlor, fühlte es sich immer wie eine tobende Apokalypse an. Niesel, Regen, Hagel ließen sie gleichermaßen erschaudern.

Nur Schnee war in Ordnung.

Schnee hatte sie schon immer gemocht …

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B: Alles wird gut

Lianes Hände zitterten immer noch.

Unsicher verschränkte sie die Finger ineinander und bemühte sich, sie unter Spannung zu halten. Sie durfte sie nicht lockern. Sie durfte keinen Stift ergreifen. Sie durfte nicht wieder diesen Stern zeichnen …

Die letzte Stunde kam Liane wie ein Traum vor. Sie wusste sich ja kaum noch daran zu erinnern, wie ihr Physiklehrer sich nach ihrem Befinden erkundigt hatte. Wie ihre Klassenkameraden getuschelt hatten. Wie sie geweint hatte-

Ja. Stimmt. Sie hatte geweint. Sie hatte sich plötzlich so schuldig gefühlt. Es war ein schäbiges Gefühl gewesen. Beinahe so, als ob sie jemanden absichtlich verletzt hätte! Selbst nachdem der Physiker sie ins Sekretariat gebracht und die strenge Katholikin Lianes Vater angerufen hatte, wollte das Gefühl nicht verschwinden. Immer wieder kam das Salzwasser zurück und suchte sich seinen Weg in die Freiheit.

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