
Fast zehn Jahre wachte ich über Jane. Ich beobachtete, wie der Exorzist sich von ihr verabschiedete. Ich blieb bei ihr, als ihr Vater im darauffolgenden Winter an einem Husten verstarb. Und ich folgte ihr wie ein Schatten, als ein altes Ehepärchen aus dem Dorf sie aufnahm.
Dennoch konnte sie mich nicht sehen.
Manchmal glaubte ich, dass sie meine Anwesenheit spüren musste. Dass sie bemerkte, wie ich hilflos die Hand nach ihr ausstrecken wollte. Sie hielt dann immer ganz kurz inne. Sie schien etwas sagen zu wollen. Sich zu entspannen. Sich in meine Richtung zu lehnen.
Nur um dann weiter zu machen.
Ich war zu einem vergessenen Traum verkommen.
Erst als sich diese Erkenntnis in mir verankerte, wagte ich es, mich von ihr zu verabschieden. Auch wenn meine Worte auf stumme Ohren trafen, so mussten sie gesprochen werden. Ich musste sie loswerden …
Ich war schon wieder allein.
Ziellos glitt ich durch das Dorf. Zuerst kehrte ich nach Hause zurück. Zu diesen abgebrannten Trümmern, die kaum noch zu erkennen waren. Wie konnte mir dieses Anwesen zu Lebzeiten wie ein Palast erschienen sein? Oder war das nur seiner Vergänglichkeit geschuldet? War ich auch … vergänglich?
Warum verschwand ich dann nicht einfach?
Nachdenklich schwebte ich weiter. Mittlerweile war der Frühling eingekehrt. Frühling. War ich als Lebender je durch eine blühende Wiese geschritten? Ich konnte mich nicht mehr erinnern. Alles vor Jane fühlte sich so grau an. So grau und fern.
Vor Jane …
Wieso hatte sie mich nicht mehr sehen können?!
Verzweifelt fiel ich in die Wiese. Mehrere Käfer stoben auf und flogen eilig davon. Ameisen suchten das Weite. Eine Biene surrte panisch auf. Als könnten sie mich spüren und gerieten in Panik. Ja. Genau wie die Dorfbewohner, wenn sie mich berührten …
War ich denn so schlimm?
Um mich herum starb das Gras ab. Es neigte sich dem Boden zu. Ich spürte, wie das Licht flackerte. Ja. Es raste vorbei. Immer wieder. Von links nach rechts. Von links nach rechts. Von-
Wieso war es Herbst?!
Hastig schüttelte ich mich. Wie viel Zeit war vergangen? Warum dröhnte mein Kopf? Kopf? Hatte ich überhaupt noch einen Kopf? Ich fühlte mich wie ein körperloses Wesen an. Wie sollte ich da noch einen Kopf haben?!
Hastige Schritte lenkten meinen Blick nach oben. Zu einem Weg – war er zuvor schon hier gewesen? Wieso war er mir nicht aufgefallen? Nein. Das konnte nicht sein! Er war mit Steinen ausgekleidet. So einen Weg übersah man nicht einfach. So einen-
Die Schritte wurden lauter.
Neugierig beobachtete ich, wie ein Junge angerannt kam. Er war klein. Schäbig gekleidet. Sein Hemd schien ihn zu verschlucken, wenn er denn nicht durch die riesigen Löcher hinausfallen würde.
Ein Brot klemmte unter seinem rechten Arm.
Beschimpfungen folgten ihm den Weg entlang. Dieb, rief jemand von dort hinten. Dieb und Hurensohn und Bastard. Die Stimme des Mannes kannte keine freundlichen Worte. Nur Beleidigungen, die wie Peitschenhiebe durch den Nachmittag halten. Aber das ging mich ja eh nichts a-
Der Blick des Jungen fiel auf mich. Seine grauen Augen weiteten sich. Diese grauen Augen … Sie waren genauso grau wie Janes. Und die Wiedererkennung darin-
Stolpernd fiel er zu Boden. Er keuchte auf. Griff sofort wieder nach dem Brot, das ihm aus der Hand gerutscht war. Blickte mich überrascht an.
„Renn lieber, eh er seinen Zorn an dir auslässt“, flüsterte er.
Dann hetzte er weiter und verschwand hinter dem nächsten Hügel.
Verdattert schaute ich ihm hinterher. Ich bemerkte erst, dass ich mich auf dem Weg befand, als ein alter Mann durch mich hindurch trat und erschauderte. Er sprach von alten Geistern und bekreuzigte sich hastig. Er wollte weiter gehen. Weiter dem Jungen hinterher-
Abwesend stellte ich mich vor ihn.
Das schien zu reichen. Wo sein Gesicht gerade noch Hass widerspiegelte, schlich sich nun Furcht hinein. Vorsichtig lief er rückwärts. Erst einen Schritt. Dann noch einen.
Zuletzt rannte er von dannen.
Das reichte mir. Er interessierte mich eh nicht. Nicht so sehr wie die grauen Augen des Jungen. Diese grauen Augen …
Sie hatten nicht nur Janes Farbton. Nein. Da war noch etwas anderes gewesen. Etwas, das seit der Verbrennung des Pfarrers in ihren gefehlt hatte. Es war mir zuvor nicht aufgefallen, weil sie so glücklich aussah. So ausgeglichen.
Aber nun?
Nun, wo ich dieser Hoffnungslosigkeit erneut gegenüber gestanden hatte?
Nein …
Keine Hoffnungslosigkeit.
Was war das?!