M: Düstere Vermutungen

Ms. Flatfink liebte Geschichte. Seitdem sie zum ersten Mal die Friedenstaube gelesen hatte, ein Schriftstück, das ihr Land mit seinen Ansichten und Weisheiten in eine Demokratie formte, schlug ihr Herz für die Historie. Bereits als Grundschülerin konnte sie sich in den alten Texten verlieren und lernte sogar, die damaligen Handschriften einwandfrei zu lesen. Alles für die vergessenen Wünsche und Ansichten, die ihr Land prägten. Es war wundervoll von all diesen Schicksalen zu erfahren. Wie sie zueinander führten. Wie sie einander berührten. Wie sie sich verwebten. Es war geradezu wie ein Zauber, der ihre Gedanken umwob!

Ein Zauber, den sie an ihre Schüler weitergeben wollte.

Doch ihre derzeitigen Klassen zeigten leider nur wenig Interesse an der Vergangenheit: Zwei Mädchen kicherten in der hintersten Reihe miteinander, während sie sich Nachrichten schrieben. Ein weiteres schaute nur verträumt aus dem Fenster. Der Junge in der Mitte war auf seiner Federtasche eingeschlafen. Ein weiteres Kind spielte geistesabwesend mit einem Bleistift und noch eines hatte sich hinter einem umgedrehten Mathebuch versteckt.

„Es ist anzunehmen, dass Jones Kirk ermordet wurde“, beendete sie gerade die Erklärung zum Untergang ihrer einstigen Diktatur, „Jedoch wurde der Täter nie gefunden. Niemand weiß ob er dem Ruhm o-“

„Er oder sie“, unterbrach eine gelangweilte Stimme.

Ms. Flatfink starrte auf den Jungen, den sie in die erste Reihe beordert hatte: Tyler Strom. Er war letzten Herbst emotional angeschlagen gewesen. Familiäre Schwierigkeiten, war im Lehrerzimmer getuschelt worden. Aber in ihrem Klassenzimmer interessierten sie die privaten Probleme der Kinder nicht. Hier ging es um den Unterricht.

Um Geschichte!

Nicht um das aufsässige Verhalten, das ihre Kollegen gutmütig wegerklärten!

„Wie bitte?“, fragte sie gereizt.

„Er oder sie“, wiederholte der Junge gelassen, „Warum soll ihn ein Mann umgebracht haben?“

„Jones Kirk war stark, wendig und keiner Sünde verfallen. Er-“

„Laut seiner eigenen Propaganda, oder?“

Ms. Flatfink biss sich auf die Zunge.

Ja. Das stimmte. Selbst nach Kirks Tod hatte es keine nachträglichen Aufzeichnungen über ihn gegeben. Einzig seine eigenen und die Schriftstücke seiner Anhänger waren überliefert worden. Während ihrer Studienzeit hatte sie mehrfach nach anderen Quellen gesucht, aber es war, als hätte man selbst nach dem Tod des Diktators in Angst vor dessen Geist gelebt.

„Also gut“, gab sie angespannt zu, „Dann sag mir doch, welche Frau Jones Kirk im März 1904 ermordet hat, Tyler?“

Für einen Augenblick schien der Junge zu überlegen. Ms. Flatfink konnte regelrecht sehen, wie er nach Auswegen suchte. Genau! Nach Auswegen. Denn keine Frau hätte Jones Kirk etwas anhaben können!

Plötzlich zuckte der Junge mit den Schultern. Uninteressiert griff er nach einem Buch und blätterte darin herum.

Das Wort Postsystem schaute zwischen seinen Fingern hindurch.

Oh, nein! So schnell würde sie ihn nicht in Ruhe lassen!

„Wenn du schon solche Überlegungen äußerst, solltest du sie auch bis zum Ende durchdenken, Tyler“, ermahnte sie ihn streng.

Weiter hinten blickte der verschlafene Junge auf. Auch die kichernden Mädchen schienen nun innezuhalten.

„Ist doch egal, wie toll Jones Kirk beschrieben wird. Er war ein Mensch. Und jeder Mensch kann sterben. Warum sollte ihn also keine Frau umgebracht haben? Warum kein Kind?“, forderte Tyler sie beinahe heraus ohne aufzusehen.

„Ein Kind?!“, Ms. Flatfink schob erschrocken ihre Brille höher, „Tyler! Denk bitte nach, ehe du sprichst! Wie hätte sich ein Kind dem ehemaligen Diktator auch nur nähern können?!“

„Auch ein Kind kann einen Abzug betätigen.“

Die Worte ließen sie erstarren.

Während die anderen Schulkinder den Elfjährigen kaum beachteten und wieder einmal nur über die schrille Stimme ihrer Lehrerin lästerten, kam diese kaum dazu, einen klaren Gedanken zu fassen.

Wie konnte ein so kleiner Junge so düstere Vermutungen hegen? Sie lebten in einer friedlichen Kleinstadt! In einer geschützten Kommune! Noch vor einem halben Jahr hätte er nie einen Widerspruch von sich vernehmen lassen. Er war ein Küken gewesen. Nicht so, wie die anderen Schüler, die stets herumalberten und kaum zuhörten. Tyler hatte sich benommen. Er hatte gelernt. Eifrig zugehört und nichts in Frage gestellt!

Nun ein Kind als Mörder vorzuschlagen?!

„Ja, auch ein Kind kann den Abzug von heutigen Waffen betätigen“, gab sie kopfschüttelnd zu, „Damals war es jedoch nicht so leicht. Die Waffen waren klobiger gebaut. Schwerer. Ein Kind wäre damit nicht zurechtgekommen un-“

„Und vielleicht wollte man genau deswegen nie verbreiten, wie Jones Kirk gestorben ist. Wäre er nicht im Tode ausgelacht worden, wenn ein kleines Mädchen für seinen Tod verantwortlich gewesen wäre?“, unterbrach Tyler sie unbekümmert.

Ms. Flatfink verschluckte sich fast an ihrer Atemluft.

„Du meinst ein kleines MÄDCHEN?!“, ihre Stimme überschlug sich, „Wie kannst du so etwas nur behaupten?! Die Liste von Kirks Feinden war endlos! Keiner von ihnen hätte jedoch die Schande in Kauf genommen und ein MÄDCHEN in eine solch sündhafte Tat getrieben!“

„Und dennoch ist er tot“, beharrte Tyler und wurde von seinem Freund angestupst.

„Hey, meinst du nicht-“, hauchte Jimmy viel zu laut.

„Ist doch wahr.“

„Ja, aber …“

„Es reicht!“, unterbrach sie die beiden harsch, „Ein Kind, nicht zuletzt ein Mädchen in eine politische Auseinandersetzung zu zerren, zierte sich damals nicht! Es galt als Todsünde, das schwache Geschlecht auszunutzen und-“

„Aber wir sind nicht schwach!“, mischte sich nun das Mädchen ein, das die ganze Zeit aus dem Fenster gestarrt hatte.

„Für die damaligen Verhältnisse galten Mädchen und Frauen-“

„Was? Nun auch Frauen? Wer hat denn Wasser ins Haus geschleppt, den Kamin oder Ofen angefeuert, Wäsche gewaschen, Teppiche geklopft, Essen geko-“

„Ja, aber-“

Nun mischten sich auch die anderen Mädchen ein. Eine wilde Diskussion über Geschlechter entbrannte. Die Schülerschaft spaltete sich in zwei Lager: Mädchen und Jungen. Alle feindeten sich an. Beleidigungen wurden ausgerufen. Dann flog ein Radierer durchs Zimmer. Hinten sprang ein Junge auf und schleuderte seine Bücher dabei zu Boden.

Gerade als Ms. Flatfinks Geduldsfaden zum Zerreißen gespannt war, entdeckte sie das dritte Lager. Es wäre ihr ohne den schlafenden Jungen nie aufgefallen. Dieser ungehobelte Bengel, der sich wieder auf seine Federtasche gelegt hatte und Tyler den Daumen einmal hochhielt.

Denn Tyler mischte sich in die Unterhaltung auch nicht ein. Er hatte nur Augen für sein Buch. Dieses Buch über das Postsystem Suderiens.

Ehe sie sich einen Reim daraus bilden konnte, flog ein Turnbeutel gegen ihre Brust und Ms. Flatfink war die ganze restliche Stunde damit beschäftigt, ihre Chaotenbande zur Vernunft anzuhalten.

Sie wünschte sich ihre Rente herbei.

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