
Lianes Hände zitterten immer noch.
Unsicher verschränkte sie die Finger ineinander und bemühte sich, sie unter Spannung zu halten. Sie durfte sie nicht lockern. Sie durfte keinen Stift ergreifen. Sie durfte nicht wieder diesen Stern zeichnen …
Die letzte Stunde kam Liane wie ein Traum vor. Sie wusste sich ja kaum noch daran zu erinnern, wie ihr Physiklehrer sich nach ihrem Befinden erkundigt hatte. Wie ihre Klassenkameraden getuschelt hatten. Wie sie geweint hatte-
Ja. Stimmt. Sie hatte geweint. Sie hatte sich plötzlich so schuldig gefühlt. Es war ein schäbiges Gefühl gewesen. Beinahe so, als ob sie jemanden absichtlich verletzt hätte! Selbst nachdem der Physiker sie ins Sekretariat gebracht und die strenge Katholikin Lianes Vater angerufen hatte, wollte das Gefühl nicht verschwinden. Immer wieder kam das Salzwasser zurück und suchte sich seinen Weg in die Freiheit.
Langsam schaute Liane zu der Sekretärin herüber, die irgendwelche Papiere bearbeitete. Ihre Blicke trafen sich. Abscheu machte sich breit.
Sofort kniff die Frau ihre Augen zusammen und zog eilig ihr Jesuskreuz hervor, um sich zu bekreuzigen. Das tat sie in einer Tour, seitdem sie Lianes Zeichnungen gesehen hatte. Sie hatte gemeint, dass einem dreizehnzackigen Stern etwas dämonisches innewohne und dass Liane sofort in den Beichtstuhl einer Kirche gehöre!
Das Mädchen konnte nur von Glück reden, dass die Frau nicht die Zeichnungen kannte, die sie als Kind gemalt hatte. Die Bilder von dem gehörnten, beflügelten Wesen waren zwar mittlerweile alle verbrannt, aber dafür wirkte das Geschöpf umso lebendiger in ihrem Kopf. Sie glaubte, seine Form ausmachen zu können. Sie glaubte, seine Augen zu erblicken. Sie glaubte, seine Schwingen zu betrachten und-
Angestrengt starrte Liane wieder auf ihre Nägel. Nein. Darüber durfte sie nicht nachdenken. Darüber durfte sie nicht sprechen! Jeder würde sie augenblicklich für verrückt halten. Sie durfte nicht-
„Entschuldigen Sie die Verspätung“, Lianes Vater stolperte hastig ins Zimmer, „Neuer Job. Ich war am anderen Ende der Stadt und der Verkehr-“, ihr Vater ruderte hilflos mit den Armen umher, „Ich musste-“
„Verzeihung, Papa. Ich-“, erleichtert las Liane ihre Schultasche auf und ging einen Schritt auf ihn zu. Jedoch stoppte sie, als die Katholikin erneut ihr Kreuz umklammerte. Die Knöchel der Frau traten so weiß hervor, dass Liane es nicht wagte, näher zu kommen.
„Kein Problem, Liane. Alles in Ordnung. Alles in Ordnung“, murmelte er und schloss sie in seine starken Arme, „Ich wollte eh sehen, dass- Egal. Also, mach dir keinen Kopf, ja?“
Die Schülerin nickte-
-wenngleich sie spürte, dass etwas an den Worten nicht stimmte. Es war ein eigenartiges Gefühl, das sie einnahm. Ein seltsames.
Beinahe so wie damals, als der fremde Mann sie vor der Gasexplosion gerettet hatte. Wie hatte er sie nochmal genannt? Lilith? Immer wenn sie an den Namen dachte, kam ihr Liane so falsch vor.
„Sie müssen unterschreiben, dass sie sie abgeholt haben“, bemerkte die Sekretärin, „Datum und Unterschrift.“
„Ist gut, ist gut“, die Arme ließen von ihr ab und wendeten sich der Bürokratie zu, „Könnten Sie mir eine Kopie davon ausstellen? Ich glaube, ich bräuchte einen Nachweis für meinen neuen Arbeitgeber. Ich habe den Job noch nicht so lange, wissen Sie?“
Liane blendete die Erwachsenen aus. Sie starrte wieder aus dem Fenster, dem sie zuvor den Rücken zugekehrt hatte. Die tanzenden Flocken bemalten die ganze Welt. Es wirkte so friedlich. So … So …
Nostalgisch?
Seltsam.
„Wollen wir dann, Liane?“
Überrascht wandte sie sich wieder ihrem Vater zu. Er hatte ihr ihre Tasche abgenommen und schaute sie besorgt und liebevoll an.
Es tat ihr weh, diesem Blick zu begegnen.
Nickend folgte sie ihm. Sie ignorierte die Katholikin, die sich erneut bekreuzigte. Sie ignorierte die Blicke ihrer Mitschüler, die mittlerweile Pause hatten und hinter vorgehaltener Hand kicherten. Sie ignorierte die nachdenklichen Augen ihrer Lehrer.
Stattdessen starrte sie auf die Zeichnungen, die ihr Vater so fest umklammert hielt. Wann hatte die Sekretärin sie ihm gegeben? Hatte Liane die Zettel nicht eingepackt? Und wieso …
Wieso weinte sie schon wieder?
Ein leiser Schluchzer entfloh ihr und erschrocken wandte sie sich ab. Sie sog die eisige Luft gierig ein. Sie brauchte den frostigen Biss in ihrer Lunge. Darauf wusste sie sich zu konzentrieren. Dann könnte sie-
Ihr Vater blieb neben einem großen neuen Auto stehen.
Irritiert begutachtete Liane den Wagen. Dann die Busstation einen halben Block weiter. Das Bild vor ihr wirkte so falsch. Sie hatten doch kaum Geld. Wo kam der Wagen also her? Ihr Vater hatte sich seit Jahren kein Fahrzeug mehr anschaffen wollen!
„Na, komm schon. Steig ein“, wies er sie an, sobald er aufgeschlossen hatte.
Stumm kam sie der Aufforderung nach.
„Wie ist das passiert?“, fragte sie und wischte die Tränen in ihrem Ärmel. Der Geruch von neuem Leder machte sich bemerkbar. Ein dominanter Geruch, der ihr die Luft abschnitt.
„Mein Chef hatte ihn mir heute Morgen als Firmenwagen zugestanden“, erklärte ihr Vater lächelnd, „Es war eine glückliche Fügung. Es gab einen Unfall am Ostbahnhof, weswegen alle Buslinien bei uns Verspätung haben. Wenn ich mit den Öffentlichen unterwegs gewesen wäre …“
Liane nickte stumm.
„Kriegst du Probleme wegen mir? Weil du früher losmusstest?“
Er seufzte leise: „Ich weiß nicht. Mr. Belial meinte zwar, dass es schon in Ordnung wäre, jedoch kann ich es mir kaum vorstellen und …“, er schüttelte den Kopf, „Nein. Das soll nicht deine Sorge sein. Du …“
Sein Blick fiel wieder auf die Zeichnungen. Auf diesen einen Stern, der sie überall hin verfolgen wollte. Sie glaubte ihn in den Schneeflocken zu sehen. Sie glaubte ihn in ihrer Hand zu sehen. Sie glaubte ihn halten zu können.
Seltsam.
„Warum hast du das gemalt?“, seine Stimme klang so zart, dass Liane befürchtete, sie hätte ihn gebrochen. Schuldbewusst sah sie zur Seite. Sie sah hinaus. In den tanzenden Schnee …
Er war so schön weiß. Wie das Papier, ehe sie es beschmiert hatte.
„Ich weiß nicht … Ich weiß es einfach nicht“, Liane schüttelte den Kopf und ihre Zöpfe flogen umher, „Ich … Ich wollte doch nur … Ich weiß nicht mehr. Es ist alles so … so …“
Was wollte sie eigentlich? Sie hatte das Gefühl, dass sie kreischen und schreien sollte und bekam dennoch keinen Ton heraus. Ihr war, als müsste sie so viele Worte loswerden und konnte kein einziges aussprechen. Es war wie ein riesiger Kloß im Hals.
Warum fühlte sie sich, als hätte sie jemanden verletzt? Als hätte sie jemanden betrogen oder verraten? Aber wen? Und wann? Wie konnte dieses Gefühl der Wahrheit entsprechen?
„Ist schon gut … Alles wird gut, hörst du? Alles wird gut“; ihr Vater schloss sie unbeholfen in seine festen Arme, „Alles wird gut …“
„Es fühlt sich nicht so an“, offenbarte Liane zögerlich, „Das alles hier. Es wirkt so gekünstelt. So unecht. Ich weiß auch nicht … Ich weiß doch auch nicht …“
Seine Finger krallten sich in ihre Jacke.
„Wir werden eine Lösung finden, Liane. Bitte. Vertrau mir-
Alles wird gut“
Aber sobald sie die Augen schloss, war dieser Stern wieder da.
Und inmitten seiner Zacken funkelte ein großer, runder Edelstein.