M: Prolog – Daseinsberechtigung I

Lydia starrte auf die ängstlichen Augen vor ihr. Sie betrachtete die geweiteten Pupillen. Das verzerrte Gesicht drum herum, dessen Mund versuchte, irgendwelche Töne auszustoßen. Nur würde der Knebel nicht nachgeben.

Dumpf stöhnte der Mann vor ihr auf. Wie ein Schwein, hatte ihr Vater lachend gemeint. Wie ein fiependes, dummes Schwein, das sein Ende kommen sah. Eine Abscheulichkeit, die er sie gelehrt hatte, zu vernichten.

Wenn die Zeit gekommen war.

Sie sah zu ihrem Bruder, der gelassen neben ihr wartete und anschließend zu der Waffe in ihrer Hand. Eine Pistole. Eine Handfeuerwaffe, die sie schon viel zu oft auseinandergenommen, gereinigt und wieder zusammengesetzt hatte. Eine, die die Rolle einer Puppe bei einem normalen Mädchen ihres Alters eingenommen hätte und-

»Gemma«, erklang es aus den Lautsprechern um sie herum und sofort spannte sich ihr ganzer Körper an, »ist in Wahrheit Ri-«

Mehr musste sie nicht hören. Ehe der Name überhaupt ausgesprochen werden konnte, ehe er auch nur erwähnt werden konnte, hob sich ihre Waffe wie von Geisterhand. Sie drückte ab, ohne darüber nachzudenken. Sie erschoss den wehrlosen Mann, als wäre er nur das, was ihr Vater gesagt hatte.

Ein fiependes, dummes Schwein.

Und damit begann das Spiel ihres Vaters.

Die Türen des Raumes öffneten sich und Menschen, die er angeheuert hatte, denen er all sein Geld versprach, wenn sie auch nur eines seiner Kinder entwaffnen könnten, strömten herein. Sie rannten auf Lydia und ihren Bruder zu. Schrien Mörder und Monster. Männer, Frauen, und alte Bettler, die sich etwas davon erhofften, wenn sie nur ein paar kleine, zierliche Kinder zu Boden ringen konnten.

Unwissend, dass sie zur Schlachtbank geführt wurden.

Lydia legte ihren Puppenersatz sicher an. Sie schoss, wenn sie musste. Nutzte ihre kleine Größe, um zwischen den Menschen hindurch zu schlüpfen. Kletterte auf die Schultern eines Mannes, als dieser ihr den Rücken zukehrte. Schlug mit ihrer Waffe auf seinen Kopf ein. Rollte sich ab, sobald er unter ihr nachgab.

Sie hörte ein Klicken und neigte sich zur Seite. Gerade weit genug, damit ihr Bruder eine bessere Schussbahn hatte. Sie spürte geradezu, wie die Kugel an ihrem Ohr vorbeisauste, als Lion die Frau traf, die sich von hinten an Lydia herangeschlichen hatte.

Dankend nickte sie ihrem Bruder zu, der etwas abseits stand und sie als Köder benutzte. Es kümmerte Lydia nicht, als sie sich zurück in das Blutbad stürzte. Sie nahm den Leuten ihre Messer ab. Benutzte sie gegen sie. Schlug immer weiter auf die Menschen ein. Konnte keine Gesichter mehr wahrnehmen. Erkannte Lion einzig an seinem Klicken. Dieses leise Klicken, das er mit der Zunge machte, wenn er sich gestresst fühlte.

Erst als nur noch sie beide standen, sah Lydia abschätzend über die leblosen Körper. Sie fühlte nichts. Immerhin wurde ihr schon so oft eingetrichtert, nichts zu empfinden. Diese Menschen hatten ausgedient. Sie waren nutzlos.

Irgendjemand klatschte. Als hätte er zugesehen. Als hätte er alles beobachtet.

Und sofort wusste sie, dass ihr Vater heute mal nichts an ihnen auszusetzen hätte.

Eine weitere Tür öffnete sich und Dead Inside trat ein, ein anderer Mann neben ihm. Lydia hatte ihn auf Fotos gesehen. Hatte das Verbot bekommen, ihm auch nur ein Haar zu krümmen. Den Befehl bekommen, ihm wenn nötig zu helfen. Ihm zu dienen.

»Wie Sie sehen können hat die Konditionierung vollste Erfolge gezeigt«, erklärte ihr Vater dem Anderen, als Lion seine Waffe wegsteckte, »Sie reagieren auf jeden ihrer Wünsche, genauso wie verabredet.«

»Wie lange hat es gedauert?«, fragte der Mann und kniete sich zu ihr herab.

Eilig sah Lydia auf den Boden. Sie durfte nicht mit den Leuten sprechen, die ihr Vater heimbrachte. Sie sollte sie nicht ansehen. Kein Interesse zeigen. Das hatte ihr Daniel Rogers befohlen. Ihr eigener Vater. Dead Inside.

Und tot war sein Herz wahrlich.

»Etwa sieben Monate. Jedoch hatte ich bereits vorher ihren Willen gebrochen. Wozu sind Sprösslinge sonst gut, hm?«, sie hörte ihren Vater lachen, doch klang es nicht echt. Keines seiner Lachen klang echt.

Sie waren alle zu eisig.

»Du hattest nicht gesagt, dass eines der Messer ein Mädchen ist«, bemerkte der andere Mann und ängstlich wollte sie sich zusammenkauern.

Nein, dachte sie. Nein! Bitte sag so etwas nicht! Er wird wieder Mama foltern und mich schlagen, wenn er uns für nutzlos hält! Bitte. Tu uns das nicht an!

Stattdessen schwieg sie nur gepeinigt.

»Ist das ein Problem?«

»Etwas unorthodox, doch kann ich bei diesem Individuum nicht auf so etwas Rücksicht nehmen«, erklärte der Mann, »Die Vorkehrungen müssen standhaft bleiben … Also sag mir, Daniel: Wie verlässlich sind diese Messer, für die du mir mein Geld aus den Taschen leiern willst?«

Sie hörte Schritte, spürte, wie jemand sie an den Haaren packte, wie ihr Vater ihre Köpfe aneinanderpresste, damit sie den Mann vollends sehen konnten.

»Aber, aber! Hundertundzehn Prozent Kundenverlässlichkeit ist bei mir ein Muss, Gemma.«

Der Besucher lächelte zufrieden, ehe er nickte.

Jedoch wirkte er dabei noch herzloser als ihr kranker Vater.


So, wieder einmal gibt es den Prolog meines neusten Buches zu lesen. Ich hoffe, er hat Euch gefallen und dass Ihr auch den Rest lesen wollt!