
„Du sollst sofort zurück ins Büro kommen … oder stellt das ein Problem dar?“, brummte Mr. Brume ins Telefon, „Na gut. Lass dir aber nicht zu viel Zeit. So ungehalten habe ich Mr. Belial schon lange nicht mehr gesehen.“
Chem Wak lauschte dem kurzen Tüten. Dem Rascheln von Stoff. Den Schritten. Dem leisen Atmen…
Reflexartig sog er selbst Luft ein und ließ sie einen Moment später wieder entweichen. Er neigte den Kopf zur Seite. Nickte stumm.
„Vorzüglich“, lobte er seinen Fahrer und deutete auf einen freien Stuhl.
Beinahe erleichtert setzte sich der andere Mann.
„Ich bitte vielmals um Verzeihung. Wenn Oliver nur-“
Chem Wak wank entschieden ab: „Er sollte nie mit ihrem Schatten verschmelzen. Wir alle brauchen früher oder später mal Zeit für uns. Also: Nicht weiter der Rede wert.“
Mr. Brume nickte dankbar. Er sprach von der heutigen Jugend und dass man ihnen zu viele Freiheiten gäbe. Dass es zwar nicht schlecht wäre. Dass es aber auch Nachteile mit sich brachte. Dass man deswegen immer in Sorge lebte.
Sorgen … Eigentlich hatte sich Chem Wak gar keine gemacht. Er wusste, dass Lilith in Sicherheit sein musste. Selbst als weder ihr Vater noch dieser Oliver sie finden konnten.
Wäre ihr Tod eine Möglichkeit gewesen, so hätten sich seine Visionen angepasst.
Nachdenklich legte er seinem Fahrer eine Zigarre hin. Ihm selbst schmeckte das Zeug nicht. Er kaufte sie nur, um die Menschen um ihn herum bei Laune zu halten. Um sie hilfsbereit zu behalten …
Dankend verschwand die Qualmstange in Mr. Brumes Innentasche.
„Mir ist egal, was er heute macht. Aber sorge dafür, dass er heute nacharbeitet. Er hat das Büro nicht vor Mitternacht zu verlassen“, erklärte Chem Wak ungerührt.
„Natürlich … Ich …“, wieder schlich sich ein Funken Unsicherheit in Mr. Brumes Stimme, „Wenn ich mir nur die Frage erlauben darf, Mr. Belial … Warum verwehren Sie Ihrer Schwester heute ihr… also … ihr Stiefvater wäre sicherlich …“
„Er wäre was?“, Chem Wak trommelte mit den Fingern auf der Lehne seines Stuhls, „Fordernd? Missbilligend? Nachforschend?“, seufzend verschränkte er die Finger ineinander, „So sehr er seine Tochter auch liebt, so sehr würde es ihn davon abhalten, das Richtige zuzulassen.“
„Ich … Ich verstehe nicht, Mr. Belial …“
Das überraschte den dicken Mann nicht. Er wusste ja nicht einmal, wie er Lilith die Wahrheit klarmachen sollte. Sie hatten ihr erstes Zeitfenster bereits verpasst. Alles nur, weil er sich von den Behörden dieser Stadt einschüchtern ließ. Und nun? Nun war so viel Zeit vergangen, dass sie es vielleicht nur noch für einen verschwommenen Traum hielt.
Wenn überhaupt!
„Du musst es nicht verstehen“, kopfschüttelnd stand Chem Wak auf und trat ans Fenster, „Keiner von euch muss das …“
Ja. Falls doch, würden die Menschen ihn eh für einen Freak halten. Gewiss würde man ihn wegsperren. Vor allem nun, da er sich so stark auf Liliths Schutz fokussiert hatte und seine Konzentration zu wanken begann. Er musste durchhalten! Er durfte sich nichts anmerken lassen. Seine Maske durfte nicht verrutschen.
Wie sollte er sonst sein Versprechen halten?
„Wie Sie meinen“, seufzend stand Mr. Brume auf und wandte sich der Tür zu.
„Stopp“, Chem Wak sprach leise, aber nachdrücklich, „Ich kann mich nicht erinnern, Sie entlassen zu haben.“
„Mr. Belial?“
„Olivers Nachrichten. Als er meine Schwester gefunden hatte. Ich will sie noch einmal hören“, erklärte er scharf.
„Ehm … natürlich“, während sein Fahrer erneut das Handy hervorkramte, schloss Chem Wak die Augen.
Obwohl er sich wohl als einziger nicht um Lilith gesorgt hatte, so plagte ihn dennoch ein unangenehmes Gefühl. Es war, als hätte sich eine Zukunft nun verfestigt. Als würde sie ihn lachend umkreisen. Als würde sie nur dank seiner Entscheidung existieren …
„Also, ich muss heute wohl nachsitzen. Wegen Schwänzen. Aber ich hab sie gefunden. Liane war in der Bib. Sie war total fertig. Hat die Zeit vergessen und gezeichnet. Sie wollte zum Sekretariat. Und ihrem Dad“, Mr. Belial hielt inne.
„Ja?“
„Oliver hat mir vorhin noch geschrieben, dass er …“, stockendes Atmen, „er hofft, sie nicht überfallen zu haben und ist leicht panisch, weil er ihr seine Gefühle gestanden hat.“
Chem Wak öffnete verwirrt die Augen.
Eine solche Gefühlsoffenbarung hätte Lilith nie aus dem Gleichgewicht gebracht. Nicht stark genug, um die Zukunft zu beeinflussen … oder?
Irgendetwas stimmte nicht. Irgendetwas braute sich am Horizont zusammen. Es störte ihn, dass er die dunklen Wolken noch nicht klar erkennen konnte. Alles wirkte so anders als in seinen Visionen und dennoch so gleich, so …
Draußen auf der Straße rief ein Kind nach seiner Mutter, die stur weiterlief. Sie wirkte genervt von ihrem Nachwuchs. Genervt und uninteressiert …
So ähnlich hatte Lilith ihre eigene Mutter beschrieben. Damals. Nachdem sie die Frau gezeichnet hatte. Der alte Alov hatte ihr stets die Materialien besorgt und sie hatte sich im Gegenzug bemüht, ihre Vergangenheit festzuhalten. Ihre Mutter. Ihren Vater. Ihren Bruder. Selbst das Kindermädchen und ihr einstiges Zuhause – sie hatte alles so endlos oft gezeichnet, bis die Striche das Wort Perfektion neu zu definieren wussten.
Doch … das war Ewigkeiten her. Und danach …
Sie hatte ihn als ihre Familie bezeichnet. Ihn und Myra und …
Chem Wak schluckte.
„Wir müssen die Bilder stehlen lassen. Ehe ihr Vater sie zu Gesicht bekommt. Das ist sicherer für alle“, erklärte er streng.
„Aber … Mr. Belial … Diebstahl-“
„Ja. Finde mir jemanden, der mir die Bilder besorgt. Ich mache einen Brief fertig, der stattdessen bei ihr abgelegt werden soll. Bis dahin behältst du ihren Stiefvater in Bewegung“, er spürte, wie sein Fahrer nach Widerworten suchte und so durchbohrte Chem Wak ihn mit einem finsteren Blick, „Habe ich mich klar ausgedrückt?!“
„Na-atürlich …“
Mr. Brume ignorierend zeichnete er einen Stern auf ein einfaches Blatt Papier und schrieb eine kurze Nachricht darunter.
Anschließend faltete er ihn. Links, rechts, schräg …
„Sorge dafür, dass der Austausch zügig passiert. Klar?“
„Ja-a…“
Chem Wak entließ seinen Fahrer mit einer Handgeste.
Dann sackte er erschöpft in seinem Stuhl zusammen.