Timothy – Die Flammen, die mich leiten …

Fortan blieb ich in Janes Nähe.

Schweigend beobachtete ich sie bei ihren Arbeiten. Wie sie ihrem schimpfenden Vater half. Wie sie jedem Befehl sofort Folge leistete. Wie sie sich sanftmütig um die Pferde kümmerte. Wie sie Schnee holte, um ihn überm offenen Feuer zu schmelzen …

Einzig in der Kirche schien sie zur Ruhe zu kommen.

„Du solltest dir eine Pause gönnen. Sonst bricht dein Körper noch zusammen“, bemerkte ich, als sie sich auf der hintersten Bank im Gotteshaus niederließ.

Jane nickte sachte.

Mehr war nicht aus ihr herauszubekommen, wenn andere Menschen zugegen waren. Sie schien sich regelrecht vor den Reaktionen der anderen Leute zu fürchten! Warum? War die Welt schon immer so erstickend gewesen?

Oder war es mir zuvor bloß nie aufgefallen?

Der Pfarrer begann seine Predigt und stumm ließ ich mich neben Jane nieder. Ich lauschte seinen Worten nur halbherzig. Mehr Konzentration hatte ich für ihn nicht übrig. Nicht, solange ihre Hand so unruhig zuckte.

„Alles gut? Du … wirkst … anders?“

Ihre Augen huschten zu mir, dann verkrampften sich ihre Hände und sie verschränkte die Finger straff ineinander. Sie senkte den Blick.

Ihre Knöchel traten hervor.

Dunkel erinnerte ich mich an meine Schwester. Sie hatte früher immer so freudig gelacht. Meist hat sie mich gerufen und zum Spielen aufgefordert. Aber einmal … Da hatte sie geschrien … Ich war damals die Treppe runtergefallen. Leute kamen angerannt. Unser Butler setzte mich auf. Er tröstete mich.

Und schimpfte mit Evangeline. Viel zu oft hatte er meine Schwester geschlagen. Sie verflucht …

Aber Evangeline hatte es nichts ausgemacht. Stets hatte sie kampfeslustig zurückgestarrt. Sie säuselte dann giftige Worte zurück.

„Wenn du … nicht passiert … deine Schuld!“

Abrupt fuhr ich hoch. Janes Hand lag auf meiner Schulter. Sie sah mich besorgt an. Besorgt und … was war das?

„Du … hast dich seit sechs Tagen nicht bewegt“, erklärte sie flüsternd und erschrocken bemerkte ich, wie dunkel es geworden war.

Die Kerze brachte nicht viel in der großen Halle. Stattdessen musste ich mich auf das schummrige Licht des Mondes verlassen, das durch die Kirchenfenster dämmerte. Es erleuchtete die nasse Reisejacke des Mädchens. Ihre rosigen Wangen …

Ich schluckte.

„Woher willst du das wissen … Du … warst weg, oder?“, fragte ich und krallte die Hände in meine Hose.

Sie … sie sahen wieder so lebendig aus. So …

Jane ließ von mir ab und sofort entglitt mir meine Gestalt wieder. Ich wurde wieder durchlässiger. Unwichtiger.

Geisterhafter.

„Ich wollte es dir sagen … Aber du … warst so abwesend“, flüsterte sie und setzte sich neben mich, „Viel wichtiger … Der Pfarrer meinte, dass sie einen Exorzisten bestellt hätten, weil sich keiner auf deinen Platz setzen konnte, ohne dass ihm übel wurde. Deine Anwesenheit löst anscheinend … feurige Alpträume bei den anderen Dorfbewohnern aus“, offenbarte sie vorsichtig.

Feurige … Alpträume?

Angestrengt schüttelte ich die Erinnerungen ab. Evangelines Gesicht verschmolz mit Janes. Sie sahen sich irgendwie ähnlich. Irgendwie …

Hastig stand ich auf. Ich hatte mich nur hier hingesetzt, um mit Jane zu sprechen. Jane, die mich einfach zurückgelassen hatte …

Ein stechender Schmerz bohrte sich in meine Brust.

„Ach, sorgst du dich nun etwa um mich? Wie toll“, schmollte ich und glitt an ihr vorbei auf den Gang.

Sie starrte nach vorn. Zu dem Podest. Ein großes Buch lag dort zur Ansicht aus. Wunderschöne Bilder verzierten es. Traumhafte Bilder, die kaum etwas mit den brutalen Predigten des Pfarrers gemein hatten.

„Ich … Ich weiß nicht, was ein Exorzist macht. Und … Du scheinst mir nicht böse zu sein. Ich möchte nicht, dass sie dich-“

„JANE!“, unterbrach ihr Vater sie.

Sein Tonfall klang fordernd. Gewalttätig. Unumstößlich!

Sofort zuckte das Mädchen zusammen: „Komme!“

Damit hastete sie wieder hinaus und ließ mich allein zurück. Ich wollte ihr schon folgen, als mich ein Gefühl zurückhielt. Langsam sah ich mich um. Ich starrte in die Schatten. Verengte die Augen zu Schlitz-

„Gott habe deiner Seele Gnade, Kind“, flüsterte plötzlich der Pfarrer.

Erst glaubte ich, dass er mit mir sprach. Jane war immerhin schon draußen. Vielleicht konnte er mich ja doch sehen. Vielleicht konnte er-

„Kind? Hexe wohl eher! Sie hat die Bank sicherlich verflucht! Dieses Gör gehört verbrannt“, offenbarte ein anderer Mann, der neben dem Geistigen stand.

„Nein! Das könnt ihr nicht machen! Sie … Jane ist nur ein Mädchen! Nur ein Mädchen!“, panisch glitt ich durch die Bänke auf die Männer zu und wedelte mit den Armen herum, „Lasst sie in Ruhe!“

Sie ignorierten mich.

„Ihr Vater ist ein gottesfürchtiger Mann. Ich würde ihn ungern mit der Neuigkeit vor den Kopf stoßen“, behauptete der Pfarrer, als er den anderen durch mich hindurch zum Podest führte.

Ich keuchte erschrocken auf. Das … Es hatte sich angefühlt, als hätte mich etwas geschlagen. Ein Schaudern drang durch meine Seele und ich konnte mich kaum weiter auf die Männer konzentrieren.

„Soll heißen?“

„Lass uns das Mädchen zum Morgengebet stellen. Wenn sie sich aus eigenem Willen nach hinten setzt, sollte ihre Überführung als Hexe eh leichter von statten gehen“, erklärte er unbekümmert.

Überführung? Sie schienen ja Janes Unschuld nicht einmal in Betracht zu ziehen! Panik schlich sich in meine Glieder. Ich durfte das nicht zulassen! Ich durfte nicht! Ich … Ich musste Jane beschützen, oder? Sie …

Ohne sie wäre ich wieder allein.

„Ihr habt keine Ahnung … Nicht die geringste …“, ich schwebte ihnen hinterher – direkt durch die Bänke nach vorne bis zu-

Vor dem großen Buch hielt ich inne. Mein Blick fiel auf die einsame Kerze. Diese mickrige Kerze, die das Podest so spärlich erleuchtete. Deren Licht so flackernd tanzte und-

Eine Flamme würde ausreichen. Nur eine kleine. Wenn ich nur diese Kerze auf das dumme Buch stoßen könnte! Ich wollte, dass etwas brannte. Dass alles verbrannte! Wenn nur noch Asche übrig wäre, könnten die Männer Jane nicht verletzen. Sie wären tot. Sie-

Die Kerze blieb stur stehen.

Das Feuer jedoch …

Hatte ich es bewegt?

Ich hörte, wie die Tür der Kirche zufiel.

Erschrocken blickte ich durch die leere Halle. Dann wieder auf die Flamme.

Ich schluckte.

Nein … Erst … Ich musste Jane warnen!

Damit hastete ich hinaus und suchte den einzigen Menschen, der mich sehen konnte.

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