M: Erwischt!

Jane ließ den Stift gedankenverloren über das Papier schweben. Erschöpft überflog sie die nächsten Aufgaben. Übungen, wie sie auch George neben ihr lösen musste, während seine jüngeren Geschwister auf dem Teppich spielten oder sich an einigen aktiveren Projekten versuchten.

Wie Jane die Kinder doch beneidete …

Und wie sehr sie doch ihre Schwester beneidete! Immerhin ging diese nun auf eine richtige Schule. Mit Mitschülern in ihrem Alter. Sie lernte das, was man auf der Straße als normal bezeichnete. Mathe. Sprachen. Naturwissenschaften. Sport. Kunst.

Ganz anders als hier.

Müde las die Elfjährige erneut die Frage ganz oben auf ihrem Blatt. Wie und wo entledigt man sich am sichersten einer Waffe? Begründe deine Antwort! Zweifelsfrei eine Frage, die von ihrem Vater stammte. Immerhin gestaltete Mona diese Zettelqual nach seinen Vorlieben. Sie hatte Jane für ihr restliches Leben zu wappnen. Sie musste dem Mädchen den normalen Schulstoff beibringen.

Und sie musste dem Mädchen die gewissenlose Kälte einflößen, die sich Janes Vater für sie wünschte.

„‘Ne Ahnung für siebtens?“, hauchte George beinahe lautlos herüber.

Jane streckte sich gähnend. Ihre Augen flogen über den Anderen, der vollkommen entspannt dasaß zu seinen jüngeren Geschwistern und seiner Mom. Letztere war zur Abwechslung mal mit ihren Zwillingskindern beschäftigt. Zwei dunkle Vierjährige mit viel zu vielen schwarzen Haaren auf dem Kopf. Sie mühten sich gerade mit ein paar Seemannsknoten ab. Billy hatte einen undefinierbaren Seilklumpen erschaffen und Jennys Kunstwerk hatte ihr linkes Bein als Opfergabe verschlungen. Jane und George kicherten über das Unglück der Beiden, versteckten sich aber sofort hinter ihren Aufgaben, als Mona ihnen einen schiefen Blick zuwarf.

Den Ärger wollten sie sich beide ersparen.

Jane spürte, wie George auf ihre Antwort wartete. Gelassen blätterte sie eine Seite weiter zu der erfragten Aufgabe. Sie genoss dabei das raue Papier unter ihren Fingerspitzen und strich nachdenklich über das Blatt, das Mona auf einer Schreibmaschine beschrieben hatte.

Du konntest das Ziel nicht eliminieren, wirst verfolgt und befürchtest von mindestens einer Person erkannt worden zu sein. Erläutere deinen Fluchtplan ausgehend vom Stadtzentrum zum China Park und mögliche Vorgehensweisen, um deine Identität zu schützen.

Jane tippte zweimal leicht auf die hölzerne Tischplatte.

Womit genau?

Sie konnte beinahe spüren, wie George die Stirn runzelte. Sein Stift wippte sachte auf seinen Fingern hin und her.

Einmal.

Zweimal.

Dreimal.

Stopp.

Mit dem dritten Teil.

Der dritte Teil? Aber die Aufgabe bestand doch nur aus zwei Abschnitten, wenn man die Beschreibung der Ausgangssituation übersprang. Es wurden einzig zwei Verfahren hinterfragt: Der Fluchtweg und die Präventionen, um unerkannt zu bleiben. Ein seltsames Gefühl breitete sich in ihr aus.

Vorsichtig ließ sie die Hand flach auf dem Tisch sinken. Keine Ahnung. Jane zog die Augenbrauen hoch und begann ihre Finger zu strecken. Möglicherweise-

Zwischen ihnen knallte Monas rechte Hand so ruckartig auf die Tischplatte, dass Jane glaubte, das Echo in ihren Knochen zu spüren. Zuckersüß lächelte die Schwangere auf sie herab, während sie die zweijährige Anastasia auf ihrem anderen Arm hin und her schaukelte.

„Jane. Jory. Möchtet ihr mir etwas sagen?“, ein wissender Unterton hatte sich in ihre Stimme geschlichen und sofort wurde der Elfjährigen bewusst:

Mona wusste, dass sie sich über die Aufgaben ausgetauscht hatten.

„Das ist doof“, bemerkte Jane mit gekonnter Unschuldsmiene, „Es ist viel zu viel Theorie. Das ist doch nicht mehr realitätsnah! Können wir nicht lieber ein paar praktische Übungen machen? Wer zum Beispiel am schnellsten ungesehen durch die Stadt kommt? Oder wer sich am besten verstecken kann? Vielleicht auch in Verbindung mit etwas Schießtraining. Das wäre sehr viel interessanter als ein paar Schreibaufgaben.“

Nachdenklich setzte Mona ihr jüngstes Kind zwischen den Übungszetteln ab und Jane beobachtete, wie George anfing für seine jüngste Schwester Grimassen zu schneiden. Er war ein echter Familienmensch. Obwohl er genauso wie sie oder Jasmine wochenlang für solch unsägliches Verhalten belehrt wurde, kümmerte es ihn nicht. Nein. Er machte sogar munter weiter!

„Grigoriy schuldet mir noch was. Vielleicht könnt ihr eine Art Praktikum bei ihm machen. Damit könntet ihr euer Anatomiewissen auffrischen und-“

„Solange Sissy lebt, wird der Rotschopf dir jeden Tag was Neues schulden“, platze es aus Janes Mitschüler raus.

Das Mädchen zuckte zusammen. Sie konnte seinen Missmut, seine Unzufriedenheit geradezu spüren, jedoch war das nur das halbe Problem. Denn egal wie oft er es vormachte, sie war es einfach nicht gewohnt, dass Ältere unterbrochen oder gar so angefahren werden durften. Sie verstand nicht, wie George seine eigene Mutter so respektlos anschnauzen konnte. Sie verstand nicht, warum ihre Mona sich das bieten ließ. Warum sie jederzeit so ruhig blieb. Warum sie so sachte nickte, als würden sie einzig die Aufgaben auf den Zetteln besprechen.

„Wohl wahr. Und ja, er ist nicht der Einzige, der sich hüten sollte, nichts Falsches zu sagen oder gar zu tun“, ihre Stimme hatte etwas Finales, etwas Verständnisvolles, das irgendwie falsch wirkte, „Aber so ist nun mal der Lauf der Dinge, Jory. Genauso, wie du dich davor hüten solltest, bei Unwissenheit deine Mitschülerin um Hilfe zu bitten. Hast du wenigstens die unterschiedlichen Aufgabenblätter bemerkt?“, Jane beobachtete wie die Frau ihre Augenbrauen hochzog und besann sich darauf, nicht hinunter zu schielen und die Aussage zu überprüfen.

Hätte sie es bemerkt, wenn sie nicht so müde gewesen wäre? Oder hätte sie diese Möglichkeit von vornherein ausgeschlossen? Würde diese Unachtsamkeit ihr später das Genick brechen? Wie könnte sie aufmerksamer werden? Wie könnte sie ihre Schwächen ausmerzen?

Wenn nicht für sich selbst, dann dafür, dass ihre Schwester nicht eines Tages in dieses Chaos purzelte?

„Das ist doch gemein!“, aufgebracht sprang George vom Stuhl und heiter lachte Anastasia auf, „Du gibst uns sonst nie unterschiedliche Aufgaben. Nie!“

„Dead Inside hatte auch nie direkten Kontakt mit der Polizei oder Andersgesinnten. Das hat ihn aber auch nicht vor dem Tod durch die Cops bewahrt. Ihr müsst immerzu alle Eventualitäten bedenken, Jory“, beinahe zärtlich klangen die Worte in Jane nach und hinterließen einen bitteren Beigeschmack. Sie spürte, wie ein Zittern über den Rücken krabbelte.

Die Warnung hatte sich in ihr Herz genistet.

„Verzeihung, Mona. Es kommt nicht wieder vor“, bemerkte sie aufrichtig und unterbrach damit die Schimpftirade, in der sich ihr Mitschüler überschlug.

Beim nächsten Mal würde die Frau Jane nicht erwischen!

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