Timothy – Siehst du mich?

Zuerst wusste ich nichts mit mir anzufangen. Alles fühlte sich falsch an. Alles fühlte sich so sinnlos an! Sollte ich hier bleiben? Hier, in den Ruinen meines Bettes? Oder sollte ich irgendwo hin? Aber wohin? Wo sollte ich lang? Was sollte ich tun? Nein. Was machte man generell, wenn man tot war? Musste man etwas Bestimmtes tun? Oder war alles egal, weil man eh tot war?

Und wo war eigentlich Evangeline?

Schwerelos hing ich in der Luft. Direkt über meinem Bett. Dort, wo ich verbrannt war. Mein Körper lag bestimmt noch immer unter dem Schutt begraben. Unter diesen verkohlten Holzbalken.

Ich wollte ihn nicht sehen. Er war nicht weiter wichtig. Er war nur eine Hülle. Eine leere Hülle, die sich einst von jeder Krankheit kontrollieren ließ.

Ja.

Etwas fiel von mir ab.

Mein Körper war nicht weiter wichtig. Nichts konnte mich mehr zurückhalten. Niemand kam, um mich zu sich zu rufen. Ich … Ich war frei.

Frei…

Stumm testete ich das Wort auf den Lippen. Auf meinen geisterhaften Lippen. Erst dann klärte sich mein Verstand. Es war, als könne ich zum ersten Mal klar sehen. Ich schaute über die kaputten Wände. Über die ausgebrannten Möbel und Balken. Ein sattes Moos hatte sich über die Ruine geschlichen. Der grüne Teppich hatte etwas Farbe in das Elend gebracht. Dazwischen thronten sogar einige Blumen und einige verlorene Mäuse.

Wie war das möglich? Wie viel Zeit war vergangen? Warum hatte sich keiner um die Ruine gekümmert? Nein. Warum hatte keiner meinen Körper geholt?!

Meine durchsichtigen Finger krallten sich in das Gestein der Mauer und hinterließen tiefe Furchen.

Erschrocken ließ ich wieder los. Mir wurde schwindelig. Übel. Der Zorn wisch einer unheimlichen Bedrängnis. Einem unguten Gefühl.

Erschöpft sank ich auf die Trümmer und blickte in den Himmel.

Er war so grau. Grau und trist und … erdrückend.

Evangeline …

Ich vermisste meine Schwester.

Wo war sie? Wieso war ich allein? War sie fortgegangen? Lebte sie noch? Warum hatte sie dann aber meinen Körper nicht begraben?

Der Himmel verdunkelte sich allmählich. Schwärze zog ein. Sie schlich sich in mein Innerstes. Es war eine wohlige Finsternis. Eine beruhigende. Mit ihr fühlte sich alles in Ordnung an. Als hätte alles seine Richtigkeit. Wenn ich Evangeline wiedersehen sollte, würde es gewiss geschehen. Bis dahin …

Bis dahin …

Was sollte ich bis dahin tun?

Meine Lehrer hatten mir nie einen Fahrplan für „Nach-dem-Tod“ gegeben. Stets hatte ich übersetzen oder rechnen müssen. Ich hatte mein Leben nach den Erwartungen meines hohen Vaters ausgerichtet. Nach all den Anforderungen, die er an mich stellte.

Aber nun? Ohne ihn? Ohne meine Lehrer?

„Ich … Ich kann das nicht. Ich bin doch nur-“

Ja. Was war ich eigentlich?

Die Frage pochte unruhig durch mich hindurch. Bislang war ich immer Vaters Erbe gewesen. Der Erbe der Bragolin. Aber als Toter konnte ich diese Rolle gewiss nicht mehr erfüllen. Also war ich einfach nur ein Geist? Oder war ich etwas anderes? Der Pfarrer aus dem Dorf hatte immer nur vom heiligen Geist oder den bösen Geistern gesprochen. Aber gab es auch andere? Oder war ich nun böse? Denn heilig fühlte ich mich auf keinen Fall!

„Ich will nicht böse sein …“, murmelte ich und schwebte über die Ruine zum Wegesrand.

Ich konnte nicht noch länger dort ausharren. Es fühlte sich falsch an. Einsam. Die Zeit verlor so schnell an Bedeutung. Wie sonst war so viel Unkraut empor geschossen? Die Sonne stand schon wieder hoch am Himmel! Dabei war doch gerade erst Nacht gewesen. Tag. Nacht. Sonne. Mond. Gewitter. Sturm. Wind. Nebel. Sonnenschein. Die Dinge wechselten so zügig durch, als würde ich durch ein Buch blättern.

Nichts blieb beständig.

Ich musste hier weg!

Erneut stieg Nebel auf. Er nahm mir die Sicht. Band mich an die Ruine. Ich schluckte. Etwas schlich sich in mein Herz.

Herz? Besaß ich überhaupt noch ein Herz? Mein Körper lag doch unter den Balken begraben! Wie konnte ich da noch ein Herz besitzen? Ich … Ich …

Überrascht hielt ich inne.

Ja. Ich fürchtete mich. Aber ich bekam keinen Zitteranfall. Keine Panikattacke. Kein Husten. Ich blieb ruhig. Ruhig und …

„Bin ich … geheilt?“

Geheilt als Toter? Das klang wie ein schlechter Scherz! Wen fragte ich überhaupt? Gott? Satan? Irgendeinen Engel? Wer es auch war, keiner antwortete mir. Keiner war hier. Ich war allein …

Lustlos lachte ich auf. Ich konnte nicht anders. Ich musste lachen.

Ich musste lachen, damit ich nicht weinte. Denn weinen durfte ich nicht. Ich durfte nicht schreien. Nicht trotzig werden. Nicht den Gefühlen nachgeben.

Sonst wäre mein hoher Vater enttäusch-

Eine einzelne Träne entkam mir. Sie kullerte an meiner Wange herab und fiel vorwurfsvoll zu Boden. Dort. Auf diesen matschigen Weg, der doch einst so schön gepflegt war.

Es war nicht fair …

Sachte fielen die Schneeflocken aus dem Himmel. Sie segelten vor mir zu Boden. Drehten sich dabei. Schienen immer mal wieder stehen zu bleiben. Zu schweben. Es wirkte so friedlich.

Und mir war, als würde die Welt stehen bleiben.

Ich dachte wieder an Evangeline. Wir hatten die weiße Pracht so oft vom Fenster aus beobachtet. Manchmal hatte sie mir auch einen Schneeball ins Zimmer gebracht. Damit ich die Kälte des Winters spüren konnte.

Als Toter blieb mir das nun verwehrt.

Das Wiehern von Pferden durchbrach die Stille. Erst nun bemerkte ich das Kloink-kloink der Hufe. Ein Mann rief etwas. Ein Mädchen antwortete. Ihre Stimme war so klar. So-

Evangeline!

Hastig rannte ich auf die nächste Biegung zu. Ich musste einfach! Wenn meine Schwester hier war, dann musste ich zu ihr. Ich brauchte sie! Ich-

Die Pferde trabten um die Kurve auf mich zu. Ich blickte sie an – eines schwarz-weiß, das andere braun. Hinter den Tieren saß ein Bauer. Er trank aus einem Flachmann und lenkte den Wagen direkt in meine Richtung. Direkt-

Erschrocken schloss ich die Augen und kauerte mich zusammen. Nur spürte ich nichts. Keinen Aufprall. Keinen Schmerz. Die Geräusche des Karrens zogen einfach an mir vorbei, als wäre ich nicht da. Als wäre ich-

Stimmt ja. Ich war schon tot.

Vorsichtig streckte ich den Rücken durch. Nun konnte ich auch das Mädchen sehen. Ein fremdes Mädchen. Sie saß hinten auf dem Wagen und flickte ein Stück Stoff. Dunkle Ringe hatten sich unter ihren grauen Augen gebildet. So dunkel, dass sie einem teuflischen Vorboten ähnelten.

„Wie lange willst du noch brauchen, Jane?!“

„Verzeihung, Vater!“

„Ich habe Hunger!“

„Ja, Vater!“

Eilig legte sie ihre Arbeit beiseite und griff nach einem Korb. Ihr Blick hob sich. Viel auf mich.

Auf mich.

Nicht durch mich.

Auf. Mich.

„Du …“, ehe ich die Worte über die Lippen bekam, war der Wagen hinter der nächsten Biegung verschwunden.

Ich schluckte. Meine Hände verkrampften sich. Nein. Hände besaß ich doch nicht mehr. Oder doch? Was konnte sich überhaupt noch verkrampfen? Warum konnte ich dem Wagen nicht folgen? Warum fühlte ich mich so festgefroren? Warum-

„Warum konntest du mich sehen?“, murmelte ich in den fallenden Schnee.

Doch antwortete sie mir nicht.

Sie … Jane. Ja. Der Bauer hatte sie Jane genannt. Ihr Vater hatte sie Jane genannt. Und sie waren hier durchgereist. Sie waren bestimmt auf dem Weg ins nächste Dorf. Sie-

Jane.

Jane hatte mich gesehen.

Da war ich mir sicher!

Ein letztes Mal sah ich zu der Ruine zurück. Ich blickte auf das zerstörte Anwesen, das einst so prachtvoll geglänzt hatte. Das nun wie ein vergessener Traum aussah.

Hier wäre ich auf ewig allein.

Mit einem Mal verflog die Starre. Ich hob vom Boden ab. Flog. Suchte!

Ich musste zu Jane …

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