
„Steph! Kommst du bitte?“
„Ja!“, grinsend strich das Mädchen ihre Haare zurecht. Erst in die eine, dann in die andere Richtung. Mit dem Haargel ihres Dads sah das Schauspiel sogar recht lustig aus. So steif und schwerfällig!
Kichernd bürstete sie die Haare nach oben und ahmte ein Gitarrensolo nach.
„Steph! Wir müssen endlich los. Sonst kommen wir zu spät zu deiner Freundin“, diesmal klopfte ihr Kindermädchen an die Badezimmertür.
Das Mädchen zog eine Schnute. Sie hatte keine Lust, einzukaufen. Aber noch weniger freute sie sich auf die Geburtstagsparty ihrer Freundin. Becky war so eine eingebildete Ziege! Das Mädchen musste immerzu über alles und jeden lästern. Es war zum Kotzen! Es war-
„Steph!“
„Ich mach‘ ja schon“, brummte sie durch die geschlossene Tür zurück.
Es half ja alles nichts. Ihre Dads arbeiteten seit fast zwei Jahrzehnten zusammen. Selbes Revier. Selbe Einheit. Sie waren beste Freunde, die sich nur bei Personalmangel voneinander trennen ließen. Und sie wünschten sich nun einmal eine enge Bindung zwischen ihren Töchtern.
„Wir brauchen noch Geschenkband, ja? Etwas, was zu dem Blumenmuster passt. Darauf legt sie großen Wert.“
„Hm“, Stephanie strich ihre Haare nach hinten.
Glänzend blieben sie so liegen. Sie sahen fettig aus. Mist. Das hatte sie nicht bedacht. So konnte sie nicht raus. Sie würde die größte Lachnummer abgeben! Dabei hatte sie eigentlich nur ein wenig für nachher experimentieren wollen.
Bei ihrem Dad klappte es sonst doch auch!
„Steph!“, ungeduldig trommelte ihr Kindermädchen gegen die Tür.
Sie schluckte.
Vielleicht könnte sie zum Einkaufen eine Mütze aufsetzen? Obwohl … Dafür war es viel zu warm. Nein. Kopftuch? Ne. Damit sähe sie wie eine alte Oma aus! Aber Haare waschen würde zu lange dauern und dann-
„Steph!“, die Klinke wippte auf und ab.
„Ehm. Ich muss kurz?“
„Vergiss es! Wir müssen jetzt los! Du kanntest den Zeitplan seit Tagen, wenn du nun noch weiter-“
„Es ist ein Notfall!“
„Ich schwöre dir, stell meine Geduld nicht auf die Probe, Stepharina!“
Trotzig legte sich ein Schalter in ihr um. Sie riss sich die Kleidung vom Leib. Warf sie gegen die Tür. Drehte Wasser in der Dusche an: „Stephanie! Mein Name ist Stephanie!“
Dann blendete sie ihr Kindermädchen aus.
Sie hasste es, wenn die Frau sie so nannte. Dazu hatte sie kein Recht! Kein Recht! Niemand durfte das Mädchen noch so nennen! Nicht mal ihr Dad!
Stephanie wusch ihre Haare gleich zweimal. Erst dann drehte sie das Wasser ab und kuschelte sich in ihr Handtuch. Mittlerweile war das Klopfen und Fluchen aus dem Flur verstummt. Stille hatte sich über das Apartment gelegt.
Gut. Damit könnte sie umgehen.
Trotzdem huschte sie eilig in ihr Zimmer. Die Klamotten für die Party lagen bereits auf ihrem Bett. Ihr Dad hatte sie extra aus irgendeinem Modemagazin bestellt. Er wollte ihr etwas Schönes bieten. Etwas, womit sie hervorstach. Deswegen glitzerte das Top. Deswegen zierten neongrüne Nähte die Hose. Deswegen sollte irgendetwas davon im Dunkeln leuchten.
Stephanie mochte die Sachen nicht.
Aber Becky würde sie lieben.
Eilig schlüpfte sie in ein normales Shirt und eine herumliegende Jeans. Sie würde sich nachher nochmal umziehen. Wenn das Geschenk fertig war. Dafür müssten sie eben noch Zeit machen. Half ja alles nichts.
„Wir können!“, rief Stephanie in das Apartment, während sie noch kurz ihre Haare bürstete. Wasser tropfte von ihrem Arm, weswegen sie die Haare nochmal grob mit dem Handtuch abrubbelte. Sie würde die Mähne unterwegs einfach trocknen lassen. Dann wären sie wieder schön wuschelig und sie könnte mit ihren natürlichen Locken angeben.
Becky wäre nicht begeistert!
Kichernd griff sie nach ihrer Jacke und schlüpfte hinein. Ein letzter Blick in den Spiegel, dann ging es zur Wohnungstür.
Ihr Kindermädchen war nicht da.
Huh? Das war neu. War sie allein los? Nein. Das durfte sie nicht! Stephanies Dad hatte klare Regeln aufgestellt. Und in denen hieß es auch, dass sie nie allein gelassen werden durfte!
„Ehm … Wir können?“, versuchte sie es nochmal.
„Ja, oh, ja!“, ihr Kindermädchen stolperte aus dem Wohnzimmer herüber, „Ich- Ehm …“
„Hast du wieder Dads Krimis gelesen?“, fragte Stephanie mit verschränkten Armen.
„Das stumme Flüstern aus Kriegsheim“, gestand die Frau zögerlich.
Das Mädchen zog eine Schnute. Also schon wieder! Das war das dritte Mal in dieser Woche! Erst machte ihr Kindermädchen Stress, weil sie ja sofort los müssten. Und dann? Dann versank sie in einem der Thriller, die ihr Dad in der Stube rumliegen ließ!
„Sterben darin Leute?“
„Das ist keine Geschichte für dich.“
„Also ja?“
„Das habe ich nicht gesagt.“
„Ja.“
„Steph! Das Buch ist ab sechzehn!“
„Also wird es blutig?“
Darauf erwiderte ihr Kindermädchen nichts mehr. Stattdessen biss sie stur die Zähne zusammen und öffnete die Wohnungstür.
Stephanie strahlte übers ganze Gesicht.
Sie wurde nicht mehr Stepharina genannt? Check. Sie hatte kein Ärger fürs Trödeln bekommen? Check. Der verhauene Geschichtstest war endlich vergessen? Check!
Sie hatte gewonnen.
Grinsend lief sie in den Laden gegenüber. Sie kannte ihn wie ihre Westentasche. Genauso wie das Sortiment. Spielerisch ließ sie die Finger über die angebotenen Geschenkbänder gleiten. Wenn es nach ihr ginge, hätte sie sich ein weißes genommen. Weiß ging immer. Es passte zu allem! Für Becky jedoch …
„Das violette, oder?“
Zustimmend nahm ihr Kindermädchen die Rolle: „Brauchst du noch etwas für die Schule?“
Eigentlich nicht. Sie war gut ausgestattet. Aber wenn sie nun hier fertig wären, ginge es direkt zurück und zur Party. Und darauf hatte sie noch weniger Lust.
„Mein Zeichenblock ist fast voll“, erklärte sie scheinheilig.
Seufzend nahm das Kindermädchen einen aus dem Regal und wandte sich ab.
Stephanie verzog die Mine, während sie der Frau zu den Kassen folgte.
Das Teil war orange.
„Der ist hässlich.“
„Dann mal‘ ihn schöner.“
„Ich will ihn nicht.“
„Aber du brauchst ihn.“
Mürrisch schaute sie zu den Schreibwaren zurück. Doch ihr Kindermädchen schien nicht zu verstehen. Sie schritt stur voran. Immer weiter in Richtung Kassen.
Stephanie blieb stehen. Sie legte ihre Hand auf eine Kühltruhe. Sie brummten so lustig. Es war ein tiefes Dröhnen, das ihre Hand lustig vibrieren ließ.
„Da war noch ein pinker.“
„Du bekommst den orangenen.“
„Kann ich sie nicht kurz austauschen?“
„Und noch mehr Zeit vertrödeln? Es reicht, Stepharina.“
Wütend kniff Stephanie die Augen zusammen. Ihre Hand bebte. Aber nicht mehr von der Kühltruhe. Nein.
Wie konnte ihr Kindermädchen es schon wieder wagen! Sie wusste, dass sie diesen Namen nicht zu benutzen hatte! Sie wusste es!
„Aber! Ich möchte den Pinken!“, schrie sie. Neugierig blieben die anderen Leute stehen. Sie sahen in ihre Richtung. Beobachteten alles genaustens.
Stephanie würde ihren Willen bekommen!
Auch ihrem Kindermädchen wurde die Aufmerksamkeit gewahr. Beinahe zärtlich ergriff sie Stephanies Hand und zog sie weiter. Etwas in dem Blick der Frau hatte sich verändert. Sie täuschte Nachsichtigkeit vor. Nachsichtigkeit, die sie sonst nicht hätte.
„Nein, Steph. Komm schon. Wir haben nicht ewig Zeit.“
Gut. Das war ein Anfang. Aber nun war das Mädchen angefixt. Sie wollte – nein. Sie musste diesen Zeichenblock haben! Sie musste ihren Willen durchsetzen! Und wenn sie eine Szene machen musste, in der sie unschuldig darum bat und ihr Kindermädchen mit der Scham kämpfte? Dann würde sie es eben tun!
„Aber bitte!“
Der Griff ihres Kindermädchens verspannte sich plötzlich. Sie zitterte. Sie war fast so weit. Nur noch-
„Steph!“
Eine stumme Warnung lag in den Augen der Frau. Wut. Verzweiflung. Hass. Angst. Die Gefühle rangen miteinander. Sie waren intensiver als sonst. Wilder.
Stephanie hielt inne.
„Aber ich-“, stotterte sie. Sollte sie sich doch entschuldigen? Sie fühlte sich schlecht. Sie hatte es nicht so weit kommen lassen woll-
„Bitte, lass es sein“, flüsterte ihr Kindermädchen, „Bitte, Stepharina.“
Das war’s.
Niemand durfte sie Stepharina nennen. Das war der Spitzname gewesen, den ihre Mom verwendet hatte. Er gehörte ihrer Mom. Nur ihrer Mom!
Dieses Kindermädchen hatte kein Recht.
„ABER DER IST DOOF!“, schrie sie aus voller Kehle. Sie riss sich los. Stampfte auf den Boden. Verschränkte wieder die Arme-
Das Klatschen schlug wie ein Donner durch den Laden. Stephanies Kopf flog zur Seite. Brennend. Schmerzend. Sie wollte wegrennen. Sie wollte-
„Wir gehen nach Hause. Jetzt“, ihr Kindermädchen legte die Waren auf den Kühltruhen ab, „Das reicht.“
Stephanie nickte. Sie vernahm ein Wimmern. Ein klägliches Wimmern. Doch brauchte sie eine ganze Weile um zu erkennen, dass es ihren eigenen Lippen entsprang.
„Dad wird dich feuern“, behauptete sie trotzig.
„Das sagst du jedes Mal.“