M: Zusammenhalt I

Zittrig presste Diana ihre Beine enger gegen ihren Oberkörper. Sie wollte in Ruhe gelassen werden. Wollte nichts mehr sehen. Nichts mehr hören. Nicht mehr-

„Diana! Mach auf!“, brüllte ihre Mutter hinter der verschlossenen Zimmertür.

Das Mädchen ignorierte sie.

Diese Frau wollte eh nur mit ihr meckern. Genau. Immerhin hatte Diana es ja gewagt, im letzten Mathetest nicht die volle Punktzahl zu erreichen! Wie konnte sie es nur wagen?! Sie musste doch perfekt sein! Immerzu perfekt sein! Perfekt, perfekt, perfekt, per-

Die Tränen verklebten ihre Augen und eilig wischte sie das Wasser weg. Sie starrte auf das Familienfoto neben ihrem Wecker. Da, auf der rechten Seite, stand sie. Mit ihren Eltern. Ihre Großmutter stand hinter dem einzigen Stuhl, auf dem der Diktator von einem Großvater saß. Links von ihm befanden sich Dianas Onkel. Dianas Tante. Rachel …

Rachel …

„DIANA! WENN DU NICHT-“

„WAS SOLL DER KRACH?!“, unterbrach ihr Großvater das Geschrei.

Augenblicklich kehrte Stille ein. Ihre Mutter stammelte irgendetwas vor sich hin. Irgendeine Entschuldigung. Keine ernstgemeinte. Dennoch würde es fortan erstmal leiser sein.

Und so raffte sich Diana auf und entriegelte ihr Fenster. Eine sanfte Brise drang ins Zimmer. Sie beruhigte das Mädchen. Verstreute ihre Sorgen …

Langsam ließ sie sich auf dem Fensterbrett nieder. Sie begutachtete den Hinterhof. Blickte nach rechts. Nach unten. Nach links …

Rachels Fenster stand offen.

Bislang hatte sie nie viel Kontakt mit ihrer jüngeren Cousine gehabt. Dafür hatten ihre Eltern gesorgt. Immerhin waren sie ja Rivalinnen. Jede von ihnen sollte die perfekte Erbin werden. Sie sollten von ihrem Großvater gemocht werden. Sie sollten den Raum mit ihrer Anwesenheit erstrahlen lassen!

Diana durfte ja nur auf eine normale Schule gehen, damit sie unter ihren Mitschülern hervorstach. Sie durfte nur Marie als Freundin haben, weil deren Mutter eine erfolgreiche Staatsanwältin war. Sie durfte nur raus, wenn sie vollkommene Perfektion repräsentierte!

Wie es Rachel wohl unter dem Druck erging?

Sie vermisste ihre Großmutter. Bis vor drei Tagen hatte sie die alte Dame stets um Rat bitten können. Diese hatte Diana immerzu ein offenes Ohr geschenkt. Sie hatte ihr geholfen. Sie war da gewesen!

Ihr Tod schmerzte so sehr…

Nachdenklich blickte Diana erneut zu Rachels Fenster herüber. Dann zu ihrer Zimmertür. Und in den Hinterhof.

Hastig wandte sie sich ab und kramte ein Springseil aus dem Kleiderschrank. Mit geübten Griffen befestigte sie es an einer Öse der Fensterläden und floh in den Garten. Von dort war es nur noch ein Katzensprung bis zur offenen Straße. Sie lief zu ihrer Freundin. Etwas Besseres fiel ihr nicht ein. Etwas Besseres hatte sie nicht mehr.

Etwas Besseres … brauchte sie denn etwas Besseres?

„Du siehst scheiße aus“, begrüßte sie das andere Mädchen.

Diana zuckte mit den Achseln. Sie hatte Marie nichts von ihrer Großmutter erzählt. Dafür war deren Tod zu plötzlich, zu fragwürdig gekommen.

„Schlechter Tag.“

„Ich hab‘ etwas Geld von Mom bekommen. Machen wir uns einen bunten?“, lächelnd winkte die andere mit den Scheinen.

Sie wirkte so sorglos. So glücklich. So frei. Ohne Verantwortungen und Pflichten …

Diana spürte einen Funken Eifersucht in sich.

„Klar“, bemerkte sie dennoch mit einem aufgesetzten Lächeln, „Was schwebt dir vor?“

„Wie wäre es mit diesen Tattoostiften? Die wären doch klasse! Stell dir mal vor, wie…“

Maries Worte schlichen durch Dianas Kopf, ohne eine Spur zu hinterlassen. Sie waren bedeutungslos. Stattdessen schaute das Mädchen über die Hecken. Über die Zäune. Auf den Straßenverkäufer, der sie gelangweilt beobachtete. Er kaute auf etwas herum. Einem Zigarettenstummel? Rauchte er seine eigene Ware?

Hastig umklammerte sie Maries Handgelenk und starrte eindringlich in deren Augen.

„Ich will eine rauchen.“

„Was?!“

„Rauchen. Eine Zigarette. Die langen Dinger, mit dem weißen Papier und-“

„Ich weiß, was eine Zigarette ist“, ungläubig schüttelte das Mädchen den Kopf, „Aber … ich weiß nicht. Wir werden sicherlich Schwierigkeiten bekommen und-“

„Als ob dich das sonst interessiert hätte“, lachte Diana, „Ich muss mal etwas Neues machen. Ich brauch etwas … ich weiß nicht. Es fühlt sich richtig an.“

„Es fühlt sich richtig an, die Luft zu verpesten?“

„Da sind die Rinderherden nahe Centy schlimmer.“

„Dia … Ich weiß nicht …“

„Hast du Schiss?“

Sofort spannte sich Marie an. Sie blickte zu Boden. Nickte stumm. Schüttelte den Kopf.

„Ich doch nicht!“, grinsend wandte sie ihren Arm aus Dianas Griff und schnappte sich stattdessen deren Hand, „Ich hoffe nur, du kriegst keine kalten Füße!“

Lachend rannten sie zu den beiden Bettlern, die neben dem Supermarkt campierten. Diese hatten ihnen ja auch mit ihren ersten Sektflaschen letztes Jahr aushelfen können. Sie feilschten kurz über den Preis und schon besorgte der Große eine Schachtel aus dem Laden. Das Wechselgeld durfte er behalten.

Mit zitternden Fingern starrte Diana eine halbe Stunde später auf ihre Beutel. Sie hielt ein Feuerzeug in den Händen. Marie hatte es von daheim geholt, ehe sie sich in einer alten Spielplatzburg versteckt hatten. Sie mussten ihre Stangen nur noch anzünden und daran ziehen. Mehr nicht. Mehr nicht …

Wieso traute Diana sich nicht?!

„Alles gut?“

Maries Worte schlugen wie ein Hammer auf sie ein. Dieselben hatte ihre Großmutter auch immer benutzt. Es war stets ihre erste Frage gewesen, ehe sie Diana auf den Schoß gezogen hatte. Sie hatte dann Dianas Haare gebürstet und einfach nur zugehört. Erst am Ende hatte sie Ratschläge gegeben. Gute Ratschläge. Sie hatte mit Dianas Eltern geschimpft, wenn diese zu streng mit ihr gewesen waren.

Und sie hatte mit Rachels Eltern geschimpft.

Erneut musste sie an ihre Cousine denken. Dann schob sie mit aller Wucht die Gedanken beiseite. Das war unwichtig! Sie alle waren unwichtig! Sie …

Ihre Großmutter war tot …

Eine Träne kullerte auf ihre Hand und hastig zündete sie ihre Zigarette an, um etwas zu tun zu haben. Sie musste ihre Hände bewegen. Sie musste sich irgendwo festhalten. Sie musste-

„Hey, Dia?“

„Nichts hat eine Bedeutung im Tod“, murmelte sie still.

Dann nahm sie ihren ersten Zug.

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