
„Guten Tag. Mein Name ist Lia- Nein. Ich meine, ich heiße Lian- Argh! Es freut mich, euch kennenzulernen. Ich bin Lia-“, wütend fuhr sie sich durch die offenen Haare und wandte sich vom Spiegel ab.
„Liane. Liane. Liane. Lian… Lili-“
Hastig biss sie sich auf ihre Zunge. Nein. Sie war nicht Lilith. Sie war Liane. Benannt nach der Mutter ihres Vat-
Vat-
Vate-
Erschöpft ließ sie sich auf ihr neues Bett fallen. Auf dieses neue Bett. In diesem viel zu großen Zimmer. In diesem viel zu großen Haus. In diesem Haus, das sie von Isa Silver geerbt hatte. Von Isa Silver, die ihre Mutter gewesen sein sollte. Die sich nicht wie ihre Mutter anfühlte … Es fühlte sich so falsch an. Alles fühlte sich so falsch an!
„Li-A-Ne. Li-A-Ne“, erklärte sie sich nachdrücklich, „Li-A-Ne. Das ist mein Name. Dieser andere … Er gehört mir ni-“
Die Worte blieben ihr in der Kehle stecken. Sie seufzte leise. Tastete nach ihren Zöpfen und-
-fand nur offene Haare vor. Genau. Sie wollte sie ja so lassen. Damit sie nicht so altmodisch aussah. Sie wollte sich einfügen! Allerdings … Ungeflochten beunruhigten sie die dunklen Strähnen zutiefst. Sie fühlten sich zu wirr, zu fremd an. Zu …
Zu fremd? Ja! Sicherlich würden sie überall rumfliegen. Sie sähe am Ende bestimmt wie eine Vogelscheuche aus! Außerdem waren ihre Haare viel zu lang. Vielleicht sollte sie lieber zum Friseur gehen, um-
„Ich mag deine Zöpfe. Damit ähnelst du mir mehr!“
Die kindliche Stimme schnorrte sich leise durch ihre Gedanken.
Liane knurrte.
„Ich hab‘ sie nicht mehr alle“, murmelte sie.
Sollte sie nun doch auf die teuren Tabletten vom Psychiater zurückgreifen? Dank dem Erbe hatten sie ja mittlerweile keine Geldsorgen mehr. Jedoch … Irgendwie fürchtete sie sich davor.
Mit einem Ruck zog sich das Mädchen wieder hoch.
Nein! Wie konnte sie überhaupt daran denken? Tabletten? Klar. Vielleicht halfen sie für ein paar Tage, aber dann? Sie wollte sich nicht von einem Medikament abhängig machen. Nicht, solange sich ihr ganzes Leben wie eine gewaltige Lüge anfühlte!
Nein. Das hier war ein Neuanfang. Sie waren endlich umgezogen. Raus aus dieser Ruine, die sich Wohnung geschimpft hatte. Sie hatten ein riesiges Haus. Ein Haus mit dutzenden Zimmern und einem Wintergarten. Einem Wintergarten! Als Liane diesen zum ersten Mal gesehen hatte, hatte die Aufregung das innere Kind in ihr geweckt.
Ja. Das hier war ein Neuanfang. Also musste sie ihn auch als solchen betrachten und sich entsprechend anstrengen!
Mit frischer Motivation schielte sie zu ihrem Wecker herüber. In zehn Minuten würde er klingeln. Dann sollte sie eigentlich aufstehen und sich für den ersten Tag an ihrer neuen Schule fertigmachen. Und dort wollte sie einen besseren Eindruck hinterlassen, als an ihrer letzten. Sie wollte positiv auffallen. Sie wollte Freunde finden – sich wenn nötig verstellen. Sie wollte dazugehören!
Deswegen hatte sie auf ihre Zöpfe verzichtet. Deswegen hatte sie sich Make-up besorgt. Deswegen übte sie wie ein Grundschulkind eine dämliche Selbstvorstellung!
„Hallo. Ich bin eure neue Witzfigur. Wie steht’s?“, versuchte sie es nochmal.
Ihr Spiegelbild wirkte keineswegs überzeugt.
Wenigstens sollte sie mit der Schuluniform in der Masse besser untergehen. Damit würde sie weniger auffallen, als mit ihren eigenen Sachen. Und dann-
Verdutzt sah sie auf ihre Finger, die bereits wieder ihre Haare miteinander verflochten und ließ hastig davon ab. Das war doch zum Verrücktwerden!
Mühsam verknotete Liane ihre Finger ineinander und kämpfte sich wieder hoch. Sie versuchte sich an einem Lächeln, jedoch reflektierte der Spiegel nur eine dumme Grimasse. „Hi, ich bin eure neue Mitschülerin. Li-“, ihre Stimme stockte, „Li-ane“, würgte sie hervor, „Freut mich.“
Ihr Spiegelbild sah nicht erfreut aus.
Eigentlich wollte sich das Mädchen abwenden, nur blieben ihre Augen an ihrem Gesicht hängen. An dieser Angst, hinter ihren eigenen Seelenspiegeln. Angst, die sie nicht verstehen konnte.
Zögerlich trat sie näher.
Sie hatte das Make-up spärlich aufgetragen. So spärlich, dass es nicht überheblich wirken würde. Dennoch fiel es ihr sofort auf. Es wirkte falsch. Falsch und fehl am Platze. Ihre Haare … ohne die Zöpfe sah dieses Gesicht nicht wie ihres aus. Und diese … warum bebte ihre Lippe so? Sie sah aus, als müsste sie gleich weinen! Weinen … ohne Grund?
„Wer bin ich?“, flüsterte sie ihrem Abbild zu.
Es starrte nur stumm zurück.
Der Wecker schreckte sie aus ihrem Tagtraum und hastig stoppte sie sein Kreischen. Ihr Blick fiel dabei erneut auf ihre Haare.
Auf die Zöpfe.
Wann hatte sie diese geflochten? Vor dem Spiegel? Aber wo hatte sie die Gummis für die Enden hergehabt?
Zaghaft strich sie über ihre Haare und spürte, wie sie sich wieder beruhigte. Diese unerklärbare Angst ließ von ihr ab. Sie atmete tief durch und plötzlich flossen die Worte sicher über ihre Lippen.
„Hey. Ich bin neu hier und werde von nun an eure Mitschülerin sein. Ihr könnt mich Liane nennen.“
Diesmal sah das Lächeln ihres Spiegelbilds gar nicht mehr so falsch aus. Es wirkte beinahe echt!
Erleichtert schüttelte Liane sich.
Ihre Augen fielen erneut auf die beiden Zöpfe. Zöpfe, die zu ihr dazugehörten und die sie nicht missen wollte. Die sie eigentlich sein lassen wollte, um besser hineinzupassen. Um besser-
War das Hineinpassen wirklich so wichtig?
Sie blieb vor dem Spiegel stehen. Begutachtete die blaue Schuluniform und die Farbe auf ihrem Gesicht. Dann die Zöpfe und zuletzt ihre Hände.
Ihre rechte zitterte.
Nein. Darüber durfte sie sich keine Sorgen machen! Heute war ihr erster Tag an der neuen Schule! Sie würde es schon hinbekommen. Sie musste! Sie …
„Liane? Bist du wach?“, rief ihr Vater plötzlich von unten hoch und erschrocken stürzte sie zur Tür. „Ja, klar!“
„Dann lass dir nicht zu viel Zeit. Oliver kommt dich gleich abholen, ja?“
Nicht zu viel Zeit …?
Überrascht sah sie zu ihrem Wecker und fluchte lautlos.
„Gleich da!“
Sie schnappte sich ihre Tasche und den Blazer der Schuluniform. Flüchtig blickte sie zu einer kleinen Box zurück, die ihren Schreibtisch zierte. Eine Box mit Medikamenten, die sie nicht nehmen wollte. Die sie vielleicht doch zu brauchen schien?
Nein!
Eilig wandte sie sich ab und hetzte nach unten.
Der einfachste Weg war selten der richtige. Sie musste es so in den Griff kriegen. Das war die einzige Möglichkeit!
„Entschuldige, dass ich dich an deinem ersten Schultag nicht begleiten kann“, erklärte ihr Vater, sobald sie in die Küche trat, „Ich wünschte-“
„Dass du mich bis ins Klassenzimmer tragen könntest und ich dann von allen ausgelacht werde?“, grinste sie ihn an, „Nein. Ist schon gut so.“
„Wie du meinst“, er schob ihr ein beschmiertes Knäckebrot hin.
Das hatte sie immer am liebsten gegessen.
„Danke“, eilig schlang sie es im Stehen herunter, „Ich krieg’s schon hin.“
„Wenn irgendetwas ist, Bennett meinte, dass Oliver dir gern hilft. Du musst nur etwas sagen, ja? Also: Keine falsche Scheu.“
Sie nickte.
Bennett und sein Sohn Oliver hatten ihnen beim Umzug geholfen. Gemeinsam hatten sie Möbel gerückt, sich unterhalten, Isas Sachen durchgesehen und aussortiert … Später war dann noch Bennetts Frau Janet hinzugestoßen und hatte ihnen Sushi vorbeigebracht.
Sushi. Liane fühlte sich wie in einer fremden Welt.
Und in dieser fremden Welt hatten die Erwachsenen entschieden, dass Oliver sie ja zur Schule bringen könne. Wie ein kleines Kind. Gut. Es hatte seine Vorteile. So könnte sie sich zumindest nicht verlaufen. Aber bevormundet zu werden?
Das störte sie vielleicht doch etwas.
„Ich krieg‘ das schon hin“, erklärte sie ihrem Vater sicherer, als sie sich fühlte, „Keine Sorge“, sie schlüpfte in den Blazer und erhaschte einen Blick auf ihre Spiegelung in der Fensterscheibe, „Wird schon.“
Sie kaufte nicht mal ihrer Reflexion diese Beteuerungen ab, dennoch sagte ihr Vater nichts.
Dankbar eilte Liane mit dem Klingeln aus dem Zimmer.
Sie musste diesen Tag überleben.
Sehr authentische Wirkung, ich mag die Szene und sie macht neugierig auf mehr. 🙂
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