
„Du … Du kannst ja sprechen“, verdattert starrte Fuji auf den Mond.
„Natürlich“, antwortete der Stein erneut mit Sabines Stimme, „Du doch auch.“
„Ja, aber …“, Fuji sah sich hilfesuchend um – aber außer dem Mond und den entfernten bunten Lichtern, war niemand zu sehen, „Du bist ein Stein!“
„Und du eine Wolke“, erwiderte der Mond gelassen.
„Aber du hast sonst auch nicht gesprochen. Du hast noch nie gesprochen!“
„Woher willst du das wissen, Fuji? Du sprichst ja auch nicht mit den Metallvögeln, die die Menschen Flugzeuge nennen. Wohl wahr, sie würden dir nicht antworten, dennoch hast du bislang den Kontakt zu ihnen gemieden. Warum sollte ich dann nicht auch für mich bleiben dürfen?“
Perplex starrte die Wolke nach oben. Er verstand die Welt nicht mehr! Da oben schwebte ein Stein, der mit der Stimme der Sonne sprach und benahm sich dabei so gelassen und vertraut, als würden sie sich schon seit Jahren kennen!
Fuji erschauderte und blickte auf den verschneiten Boden hinab.
„Ja … Aber … Ich meine …“, er brach wieder ab, als sich kein klarer Gedanke formulieren ließ. Das war alles zu abstrus!
„Ich heiße übrigens Sabine“, bemerkte der Mond durch das Chaos in Fujis Kopf, „Freut mich, dich wiederzusehen.“
Die Wolke hielt inne. Dann sah sie erneut auf. Ärger machte sich in ihr breit.
„Du … Du kannst nicht Sabine heißen! Sabine ist die Sonne und du bist nur-“
„Ich bin die Seele der Sonne“, unterbrach der Mond ruhig, „Was sie vergisst, wandert zu mir. Ich weiß, wie wir dich nach deiner Geburt begrüßt haben. Ich weiß, wie oft du meinem Spiegelbild helfen wolltest. Ich weiß, wie oft du ihr nachgeflogen bist. Du hast sie an ihren Namen erinnert. Du hast dich um sie gekümmert. Du hast dich nicht von ihr und ihrer Vergesslichkeit abgewandt.
Und du hast dich sogar gegen deine einstigen Freunde, die Sterne, gestellt. Alles nur für uns.“
Fuji flog irritiert höher, um besser lauschen zu können. Die Worte ergaben keine Bedeutung in seinen Ohren. Wie sollte der Mond die Seele der Sonne sein? Was war überhaupt eine Seele? Woher nahm der Stein sein Wissen? Es klang eher nach einem Märchen! Wollte der Mond ihn zum Narren halten?!
„Das macht doch keinen Sinn! Du bist nicht Sabine. Du bist ein Stein im Himmel. Ein toter Stein!“, rief, nein, brüllte er hinauf.
Als Antwort lächelte ihn der Stein sanftmütig an.
„Du hast Recht, derzeit bin ich ein toter Stein im Himmel“, entgegnete der Mond, „Ich bin nicht mehr, als ein Gedächtnis – verdammt dazu, nachts zu schweigen. Aber wenn ich über einen Ort wie diesen tagelang wachen kann, kann ich mich sammeln. Dann kann ich wachsen und gedeihen und vermag wieder zu sprechen“, etwas regte sich im Gesicht des Himmelkörpers und Fuji erkannte Sabines Züge darin, „Das Leben ist nicht fair, kleine Wolke. Das Leben ist nicht fair …“
Irgendwie beruhigte Fuji diese Aussage. Nachdenklich schwebte er umher.
War dieser Mond die Antwort, die er bereits seit Monaten suchte?
Fuji betrachtete die Züge des Steins genauer.
Ja. Er hatte Sabines Augen. Und ihren Mund. Und- Oh, je! Das war wirklich Sabine! Deswegen hatte er auch ihre Stimme!
„Du bist meine Freundin und gleichzeitig bist du sie nicht, oder?“, fragte die Wolke vorsichtig nach, „Sabine … Sie war sonst immer kindlicher. Sie war freier in ihren Gedanken. Du jedoch … Du bist irgendwie …“
„Alt. Weise. Vergangen. Vergessen. Erschöpft?“, der Mond blickte zu Fujis Namensgeber, der den Blick schweigend erwiderte, „Weißt du, Fuji, ich und die Sonne, wir waren einst ein Wesen. Wir schwebten da oben bei den anderen Sternen. Aber dann wollten wir diesem Planeten Leben einhauchen.
Zuerst ging alles gut. Der Boden wärmte sich auf. Er begann sich zu verformen. Pflanzen sprossen empor. Dann kamen die Tiere. Dinosaurier! Die waren vielleicht lustig! Sie trugen Federn und tummelten in Scharen über die Erde …
Nur wurde uns alles zu viel. Wir wurden zu heiß. Wir verbrannten beinahe die Welt. Wir verbrannten beinahe das Leben, das wir so mühselig gepflegt hatten. Wir verbrannten beinahe die Spuren ihrer Existenz … Jedoch konnten wir uns auch nicht einfach zurückziehen. Dann wäre die Welt erfroren! Wir waren gefangen. Gefangen von unserem Traum, Leben zu erhalten. Und egal, was wir zu tun gedachten, der Planet drohte, zugrunde zu gehen!
Es sei denn …“, der Mond seufzte erschöpft, „Es sei denn, wir würden unsere Wärme teilen. Wir mussten uns verteilen. Wir mussten für ein Gleichgewicht sorgen. Wir mussten die richtige Balance finden.“
Fuji nickte langsam. Er glaubte, zu verstehen.
Nicht alles. Aber genug.
„Und deswegen umkreist ihr die Erde?“, fragte er den Mond.
„Nicht ganz“, offenbarte die zweite Sabine und lächelte die Wolke so herzlich an, wie es die Sonne noch nicht vermocht hatte, „Ich erinnere die Erde daran, sich zu drehen und mein vergessliches Spiegelbild wärmt sie gleichmäßig von allen Seiten. Damit konnten wir das Leben achten. Es schützen. Es weiterhin gedeihen lassen.
Aber wenn die Nacht anbricht, verschluckt die Dunkelheit die Erinnerungen meines Spiegelbildes-
-und bringt sie zu mir, damit sie nicht verloren gehen. Das ist der Preis unserer getrennten Existenz. Das ist der Preis des Lebens.“