K: Nur ein Traum I

Der Staub hinterließ einen toten Geschmack auf Nadjas Zunge. Er schmuggelte ein Gefühl der Einsamkeit in ihr beengtes Zimmer. Und selbst der stete Luftzug ihres kaputten Fensters wusste die Fusseln nicht zu vertreiben. Lieber entlockte er ihrem Windspiel ein schwerfälliges Lied. Dieses echote gepeinigt durch den Raum. Es sang mit seinen tristen Klängen von Kummer. Von Sorgen. Von Qualen.

So wie jede Nacht …

Zügig ignorierte Nadja die Töne. Stattdessen bemühte sie sich, die Schemen ihrer Möbel auszumachen. Ein schwieriges Unterfangen, da sie ohne den Mond die Ecken und Kanten nur erahnen konnte. Sie nahmen geisterhafte Konturen an, die stumm miteinander zu verschmelzen schienen.

„Gute Nacht und träum was Schönes. Wir sind zurück, ehe der Morgen anbricht“, hatte ihre Mutter vorhin noch gesagt.

Worte, die nun so weit entfernt wirkten.

Nadja seufzte und kuschelte sich tiefer in ihre Decke. Eigentlich hätte heute Abend ihr Kindermädchen da sein sollen. Eine junge Frau aus dem Dorf, die das Kind an den Wochenenden babysittete, wenn sie nicht im Comicladen arbeitete. Sie spielte mit Nadja. Sie bereitete leckeres Essen zu. Sie füllte für Nadja die Badewanne und hängte sogar ein paar Handtücher für Nadja über die Heizung.

Aber Mary hatte sich erkältet.

Das Mädchen rollte sich auf die Seite. Ihre Augen fanden das kaputte Fenster. Sie starrte auf die Umrisse der Bäume dahinter. Dann ließ sie ihre Hand aus dem Schutz der Decke gleiten.

Ihre Finger strichen über etwas Pelziges unter ihrem Bett.

„Hallo, Oni“, grüßte Nadja das Wesen, „Danke, dass du mich auch heute Nacht nicht alleine lässt.“

Schweigen.

„Mama und Papa sind zu Freunden gegangen. Sie spielen irgendein Kartenspiel, das nichts für Kinder ist.“

Schweigen.

„Ich glaube, sie mögen es. Mama ist immer so glücklich, wenn sie es am Abend zuvor spielen konnte. Dann ist sie auch nicht so abwesend. Ich glaube, ich würde es auch gern mal spielen.“

Schweigen.

Nadja blieb unbeeindruckt. Das kleine Wesen blieb anfangs immer still. Es schien jeden Abend von Neuem seine Zeit zu brauchen, ehe es sie gar begrüßte.

Aber wenn es erstmal sprach, dann sprach es auch.

Als sie Oni das erste Mal getroffen hatte, hatte sie sich wahnsinnig vor ihm gefürchtet. Seine roten Augen hatten ihr einen Alptraum nach dem anderen eingejagt! Als jedoch nichts geschah, änderte sich Nadjas Meinung allmählich. Die friedlichen Monate, in denen sie nebeneinander her lebten, hatten sie beruhigt. Und mittlerweile hatte sie ihn sogar ein wenig in ihr Herz geschlossen.

Diesen kleinen Teufel mit den roten Augen.

Als sie ihrem Papa von Oni erzählt hatte, hatte er behauptet, dass Oni nicht real wäre. Dass er nicht real sein konnte. Er hatte Oni ihren imaginären Freund getauft. Eine Absonderlichkeit ihrer Fantasie! Ihr Papa verbat ihr anschließend sogar, weiter mit dem Wesen zu sprechen. Sie sollte schneller erwachsen werden und nicht an Albernheiten hängen bleiben!

Nadja ließ die Worte stur an ihr abprallen. Ihrem Vater zu widersprechen, würde nichts bringen. Doch ihm glauben, konnte sie auch nicht. Immerhin konnte sie Onis Fell spüren! Und wenn sie ihn zum Reden brachte, erzählte er ihr sogar ein paar spannende Geschichten. Er wusste von Geheimnissen, die sich am nächsten Tag bewahrheiteten. Und wie sollte er dann noch aus ihrer Fantasie entspringen können?

Unten im Haus knarrte etwas und überrascht zuckte Nadja zusammen.

Was war das? Waren ihre Eltern zurück? Aber sie hatte doch gar kein Auto gehört! Und … Warum schalteten sie kein Licht an? So würden sie sicher-

Es krachte.

Ein Knirschen.

Poltern.

Nadja riss ihre Decke hoch. Sie zitterte am ganzen Körper. Die Klänge ihres Windspiels durchfluteten ihren Kopf. Sie komponierten ein dramatisches Lied. Irgendwo in der Ferne schrie ein Vogel. Blätter raschelten draußen. Es wurde stickig unter der Decke. Stickig … Aber sie wollte den Stoff nicht anheben. Lieber blieb sie starr liegen und hoffte, dass die Luft ausreichen würde.

Ein beißender Gestank schlich sich an. Bissig. Bitter. Brechreizerregend!

Nadja wusste nicht, wie lange sie so ausharrte.

Nur, dass plötzlich ihre Tür quietschte.

Schritte näherten sich.

Tap.

Tap.

Tap!

Schlürfen.

Mit einer üblen Gewissheit wurde Nadja klar, dass das auf keinen Fall ihre Eltern sein könnten. Ihre Eltern waren nicht da. Ihr Papa und ihre Mama waren noch bei ihren Freunden. Und ihre Nachbarn wohnten auf der anderen Seite des Hauses. Sie würden es bestimmt nicht hören, wenn das Mädchen um Hilfe schrie! Sie war hier ganz auf sich allein gestellt. Sie war-

Ängstlich presste Nadja die Augen zusammen. Etwas Neues zerrte an ihr. Ein Gefühl der Furcht. Ihr Körper spannte sich an. Ihre Hände krallten sich tiefer in die Decke. Sie glaubte, einen fremden Atem hören zu können, nein, spüren zu können. Schwerfällig verströmte er diesen widerlichen Geruch und-

Eine Hand lag auf ihrer Decke. Direkt über ihrem Oberschenkel. Jemand seufzte. Sie glaubte, andere Geräusche zu vernehmen. Geräusche, die-

„FiNgEr WeG!“, eine unmenschliche Stimme durchschnitt die Nacht.

Es polterte.

Die Hand war weg.

Dann…

Stille.

Nadja schluckte. Sie spannte sich an. Schwieg. Sammelte ihren Mut zusammen. Starrte auf den dunklen Stoff vor ihr.

Sie musste sich darauf konzentrieren, zu atmen. Sie musste sich zusammenreißen. Sie musste etwas sehen – etwas erkennen! Aber so konnte Nadja nichts ausmachen. Nicht wenn sie sich hier so verkroch. So wusste sie ja nicht einmal, wie sie einen klaren Gedanken fassen sollte!

Vorsichtig zog sie die Decke von ihrem Kopf.

„Oni?“

Die düstere Stille ihres Zimmers begrüßte sie. Frisch aufgetaucht, fühlte sich die Luft angenehm kühl an. Nadja war gar nicht bewusst gewesen, wie sehr sie unter der Decke geschwitzt hatte.

„Oni? Was-“

Das Mädchen wollte aufstehen und ihre Beine aus dem Bett schwingen, als sie bemerkte, dass dort etwas lag. Nein. Jemand lag da. Die Schemen waren groß. Und breit. Breiter als die ihres Papas! Sie erkannte ihn nicht. Wer war er? Was wollte er hier? Warum war er hier? Warum atmete er so schwer?

Nadja rieb sich die Nase, als sie seine Gerüche wahrnahm. Der Mann war die Quelle des Gestanks! Nun konnte sie es erkennen. Er roch nach Schweiß. Nach Urin. Nach Alkohol! Dazwischen lagen noch weitere Duftnoten. Duftnoten, die bissiger und vor allem bitterer stanken. Sie schlugen dem Mädchen geradezu brutal ins Gesicht!

Dann erblickte sie die roten Augen neben dem Mann.

Oni hatte sich ihr zugewandt. Sein Blick ruhte nachdenklich auf ihr. Irgendwie besorgt und genervt zugleich. Die Dielen unter ihm knarrten, als er sich Nadja zuwandte. Nicht laut, dafür war er zu klein. Er war ja gerade mal so groß wie ihr altes Lieblingsstofftier!

„LeG dIcH wIeDeR sChLaFeN. AlLeS iSt GuT“, erklärte er ihr sachte und starrte sie mit diesen roten Seelenspiegeln nieder, „DaS iSt AlLeS bLoß eIn TrAuM.“

Benommen nickte Nadja ihm zu.

Ja.

Alles nur ein Traum.

Warum hatte sie sich gerade noch gefürch-

Nein.

Es war, wie Oni gesagt hatte.

Es war nur ein Traum.

Nur ein Traum.

Ein Traum.

Also schlief sie.

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..