B: Reingelegt? I

„Bis nachher“, flüsterte Oliver ihr zu und drückte Liane kurz an sich.

„Treffen wir uns wieder vor der Bibliothek?“

„Hm, ich dachte-“

„Dass ihr Turteltäubchen schon spät dran seid“, unterbrach Shiloh mit wedelnden Händen, „Na los. Das ist nicht deine Klasse.“

„Jawohl“, lachend eilte Oliver den Gang runter. Liane beobachtete ihn noch einen Moment, ehe sie sich ihrer Freundin zuwandte. Nur war diese bereits auf dem Weg zu ihrem Tisch.

„Sind wir so schlimm?“, erkundigte sie sich zaghaft.

Die Frage musste einfach raus. Sie selbst konnte es nicht einschätzen. Das hier war ihre erste Beziehung, verflixt nochmal! Ging es zu schnell? Zu langsam? War es zu intensiv? Zu flach? Sobald Oliver nicht mehr bei ihr war, schlichen sich die Selbstzweifel an-

-und verschmolzen den Talisman mit ihrer Hand.

„Nun, ihr seid ein Paar. Nicht Nanny und Kind, oder?“, Shiloh zuckte mit den Schultern.

Nachdenklich zerrte Liane alles für die erste Stunde aus – mit dem Pausenbrot war alles so eng: „Du meinst, dass ich mich zu sehr auf ihm ausruhe?“

„Andersherum. Ich glaube, dass er zu sehr an dir klebt. Du bringst ihn immerhin nicht zu jeder Schulstunde oder gar bis nach Hause, hm?“, Shiloh plumpste auf ihren Stuhl und senkte die Stimme, „Weißt du überhaupt, wie angefressen Betty deswegen ist? Sie hat schon mehrfach versucht, ein paar dumme Sprüche über dich zu verbreiten. Dass du irgendein Freak wärst und so. Ziemlich dummer Unsinn.“

Das Wort Freak hinterließ ein übles Gefühl in Lianes Hinterkopf. Sie musste wieder an ihre alte Schule denken. Dort hatten die anderen stets einen großen Bogen um sie gemacht. Sie hatte keine Freunde gehabt. Keinen Freund. Kein offenes Ohr.

Wenn sie so daran zurückdachte, hatte es sich schon irgendwie einsam angefühlt. Einsam, aber verdient?

„Keine Sorge! Ich habe sofort erklärt, dass der Mist albern ist.“

Shilohs Stimme holte sie in den Klassenraum zurück. Sie blinzelte irritiert. Schüttelte entschuldigend den Kopf. Lächelte.

Zumindest hoffte Liane, dass sie lächelte.

„Schon gut. Ich habe schon schlimmere Sprüche gehört“, behauptete sie, „Aber … Danke.“

„Hm. Ist ja selbstverständlich“, dennoch wirkte sie nicht beruhigt.

Ob ihr Lächeln zu flach gewesen war?

Neben ihnen polterte es und ein anderes Mädchen stürzte neben Shiloh zu Boden.

Überrascht sprangen beide auf. Liane kniete sich zu dem Mädchen herunter, doch fühlte sie sich noch im gleichen Moment unwohl. Sie wusste nicht, woher das Gefühl kam. Es war urplötzlich da. Wie ein Stachel, der sich in ihren Fuß bohrte. Nicht schmerzhaft. Nur deutlich spürbar. Drängend.

„Alles gut?“, fragte sie sachte.

„Ja. Habe wohl nicht richtig geguckt“, behauptete Tina und stand vorsichtig wieder auf, „Doof gelaufen. Wird wieder.“

Damit ging sie wieder zurück zu ihrem eigenen Tisch.

Lianes Finger verkrampften sich. Sie spürte ihren Talisman darin. Er bohrte sich in ihre Hand. Das Plastik schnitt regelrecht durch die Haut, als wolle es diesen imaginären Stachel rausreißen!

„Ehm … Bist du okay? Du … blutest“, murmelte Shiloh kaum hörbar.

Statt zu antworten, biss sich Liane auf die Zunge. Sie starrte auf die roten Tropfen an ihrer Hand. Sie hatte sich wirklich an ihrem Talisman verletzt. Es war nur eine kleine Wunde. Und trotzdem beschäftigte sie das Mädchen nicht so sehr, wie dieser unsichtbare Stachel.

„Warum hat Tina gelogen?“, flüsterte sie.

Ihre Freundin runzelte die Stirn: „Bitte?“

Langsam schaute Liane noch einmal zu dem anderen Mädchen rüber, das sofort den Kopf einzog. Sie starrte stattdessen auf ihr Handy und tippte wild darauf rum. Sie wirkte so aufgeschreckt. So ängstlich …? Wieso war sie zu ihrem Platz zurückgekehrt? Was hatte sie hier vorn gewollt? Kam es nur Liane seltsam vor, dass Tina nach vorn gekommen und sofort wieder umgedreht war?

Was übersah sie?

Mit brummenden Kopf ging sie zu ihrem Stuhl zurück und hielt inne. Hier hatte sie ihre Sachen ausgepackt, die Tasche geschlossen und sich mit Shiloh unterhalten. Die Sachen lagen immer noch alle auf dem Tisch. Nur etwas verschoben. Wahrscheinlich waren sie durcheinander gekommen, als sie aufgesprungen war und-

Die Tasche war anders verschlossen. Die Reißverschlüsse waren nicht ganz mittig. Sie waren seitlich. Dabei schloss Liane sie stets mittig. Es war eine dumme Eigenart, die sie von klein auf hatte. So sah es symmetrischer aus.

„Ehm, redest du noch mit mir?“, fragte Shiloh leicht ungehalten.

„Verzeihung“, Liane wandte sich ihrer Freundin voll zu, „Beobachtet mich wer … oder klebt am Handy?“

Die Augen ihrer Tischnachbarin verengten sich zwar, dennoch richtete sie den Blick auf die anderen.

„Paul und Chris hängen an ihren Minibildschirmen … Und Betty …starrt dich in Grund und Boden? Weiß nicht. Meinst du das?“

Die Jungs konnte sie ausschließen. Die beiden saßen zu weit weg. Betty befand sich näher. Und sie war mit Tina befreundet, oder? Beide Mädchen wohnten in derselben Straße. Wäre Lianes Vermutung zu seltsam? Sollte sie die Ahnung mit Shiloh teilen? Sie war immerhin nicht mal ganz so seltsam, wie die Skizzen, von denen sie ihrer Freundin bereits gebeichtet hatte!

„Kann sein. Würde sie mir was zustecken?“, fragte Liane daher leise.

„So, wie sie sich die letzten Tage benimmt? Nicht undenkbar“, räumte die andere ein, „Magst du nachsehen?“

Auf der einen Seite wollte sie ungemein nachsehen. Allein schon, um sicherzugehen, dass nichts fehlte! Aber dann würde Betty wissen, dass man sie ertappt hatte, oder? Sie würde es auf eine andere Art versuchen. Und anders. Und wieder anders. Nein. Das wäre nur eine endlose Schleife. Davon hätte niemand etwas.

Wie konnte man diese Verachtung also aufbrechen?

Ein jedes Wesen schafft sein eigenes Schicksal. Doch baut es die Zukunft auf dem Fundament des Hasses, so stürzt das Mauerwerk vor Einsamkeit ganz allein ein.

Die Worte klangen ungefragt in ihr wider. Sie entspannte sich. Schaute auf ihre Hand. Auf das Blut.

Es war eine ganz schöne Sauerei, die erst nun versiegte.

„Nein. Lass mal schauen, was noch passiert“, bemerkte sie ruhig.

Shiloh runzelte die Stirn.

„Du bist mir eine.“

Liane stellte ihre Tasche auf den Boden und schnappte sich stattdessen einen Stift, den sie mit den Fingern der unverletzten Hand im Kreis wirbelte. Sie brauchte die Bewegung genauso, wie ihren Talisman, um die Unruhe zu überbrücken.

Die Unruhe, die abrupt endete, als der Lehrer mitsamt Sekretärin den Raum betrat und wütend die letzten Tests auf sein Pult warf.

„Es missfällt mir, dass ich mir die Erlaubnis für eine Taschenkontrolle einholen musste. Es missfällt mir, dass ich in eurem Zeug rumwühlen muss. Aber noch mehr missfällt mir die Anschuldigung, dass einer von euch stehlen soll!“, er atmete tief durch, „Also: Taschen auf den Tisch. Miss Lavendel ist meine Zeugin, dass alles mit rechten Dingen zugeht. Beschwerden werden bitte an die Quelle gerichtet, die ihren Brief nicht mal unterschreiben kann!“

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