Timothy – Zusammen allein …

Ich fand ihn im Dorf wieder. In demselben Dorf, in dem ich Jane zurückgelassen hatte. In demselben Dorf, dessen Straßen dieselben Wege entlangliefen. In demselben Dorf, das nun dennoch so anders aussah …

Wo kamen die ganzen neuen Häuser her? Warum wirkte die Kirche so alt und schäbig? Auch die Gehwege erschienen mir so … stabil?

Unschlüssig betrachtete ich den Marktplatz von den umliegenden Dächern. So viele Leute tummelten sich da unten herum. Dazu noch all diese Stände! Komisch. Woher kamen die ganzen Waren? Die Hälfte davon wusste ich nicht einmal zu benennen!

Der Junge schlich sich durch die Menge. Immer wieder fielen seine hungrigen Augen auf die Lebensmittel. Jedoch blieb er nicht stehen. Wer stehen blieb, wurde von den Verkäufern eindringlich gemustert. Das würde-

Flink schnappte er sich einen Apfel und ließ ihn in den Falten seiner zu großen Kleidung verschwinden. Direkt zu dem Brötchen, das er zuvor ergaunert hatte.

Wieder hatte niemand ihn bemerkt.

Erleichterung machte sich in mir breit. Sie überraschte mich. Sorgte ich mich etwa um den Jungen? Warum? Weil er mich angesprochen hatte? Wollte ich deswegen Kontakt zu ihm aufbauen?

Nein. Das war nicht alles. Es lag auch an seinen Augen. An diesem Blick darin. Der Blick, der mir so vertraut erschien …

Ich schwebte zur nächsten Seitengasse – dem Jungen hinterher, der nun den Platz verließ. Jedoch näherte ich mich nicht der Erde. Ich blieb über ihn. So würde er mich nicht direkt bemerken, falls er sich umdrehte.

Er sollte mich noch nicht wiedersehen.

Der Junge mit den grauen Augen eilte mehrere versteckte Wege entlang, ehe er vor einem kaputten Haus anhielt. Das Dach war eingestürzt. War es morsch gewesen? Es schien zumindest nicht verbrannt. Vielleicht wurde es in einem Sturm beschädigt? Oder-

„Timmy!“

Mein Innerstes erstarrte.

Mit großen Augen blickte ich auf das kleine Mädchen, das hinauseilte. Sie konnte nicht sehr alt sein. Vielleicht vier? Höchstens fünf. Und sie hatte meinen Spitznamen gerufen. Während sie in meine Richtung rannte! Das war mein-

Übermütig warf sie sich dem Jungen in die Arme. Sie drückte ihn an sich, als würde ihr Leben davon abhängen.

Und er erwiderte die Geste, als wäre sie das Wichtigste auf der ganzen Welt.

„Du solltest doch drinnen warten, Julie!“, hastig trug er sie nach drinnen.

In dasselbe Haus, in welchem das alte Ehepärchen Jane aufgenommen hatte.

Ich spürte, wie ein Schauder durch mich lief. Schüttelte ihn ab. Sah mich nach anderen Menschen um.

Doch keiner schien sich für das kaputte Haus zu interessieren.

Dafür interessierte es mich nun umso mehr. Vor allem diese Kinder.

Diese Kinder, die Janes Augen trugen.

Schweigend schwebte ich durch die Wände des Gebäudes und belauschte die beiden. Sie sprachen vom nächsten Winter. Von fehlendem Essen. Er wollte sich Arbeit suchen, um sich um sie zu kümmern. Aber dann wäre er auch seltener da. Sie solle sich solange hier verstecken.

Aber sie wollte ihn selbst ins Tagewerk begleiten.

„Ich will dich nicht verlieren. Bitte! Nicht so wie Mama!“, schluchzte sie nach einer Weile.

Wie Mama …

Mama …

War Jane ihre Mutter? Sie … Die Kinder sahen ihr so ähnlich … Und dann noch dieses Gebäude … Es würde passen. Es … Es musste, oder?

Und wenn der Junge Timmy hieß …

Hatte Jane sich doch noch an mich erinnert?

Erst als die Kinder schliefen, traute ich mich näher an sie heran. Ich musste sie genauer mustern. Ich wollte keine unsinnigen Hoffnungen hegen. Ich durfte nicht!

Nicht, nachdem ich sie hier zurückgelassen hatte.

Zorn stieg in mir hoch. Es war nur ein Funken. Allerdings war er stark genug, dass ich die vergessene Lampe an der Wand aufleuchten lassen konnte. So konnte ich mir ein besseres Bild machen. So-

„Bist du Timothy?“

Ich hielt inne.

Das Mädchen starrte mich an. Sie war wach. Sie hatte mit mir gesprochen. Sie-

„Wie kommst du auf den Namen?“

„Wegen-“

Ehe sie antworten konnte, öffnete ihr Bruder die Augen. Verwirrt blickte er ins Licht. Dann auf mich.

„Verschwinde! Finger weg von unseren Vorräten, du Einbrecher!“, er ergriff einen Schürhaken. Es war ein altes Ding, das neben ihm bereitlag. Einem Lebenden würde es gewiss Schmerzen zufügen. Aber mir?

Sah ich denn so real für ihn aus?

„Ich brauche kein Essen“, erklärte ich gelassen, „Ich bin nicht mehr hungrig.“

„Sicher doch! Und ich bin der werte Kaiser“, höhnte er zurück.

Ich ignorierte ihn. Er war eh nicht in Stimmung, sich mit mir zu unterhalten. Das war vergebliche Liebesmüh. Das Mädchen jedoch …

Sie schaute mich immer noch so neugierig an.

„Woher kennst du meinen Namen?“, hinterfragte ich erneut.

Irritiert blickte der Junge zwischen uns hin und her. Er blinzelte verschlafen. Wie auch nicht? Bei den dicken Augenringen …

„Oma Jane hat immer von dir gesprochen. Sie hat gesagt, dass du sie gerettet hast. Und dass du lieb bist. Lieb und verwirrt.“

Lieb und verwirrt? Nun … Es passte.

„Wo ist eure Oma Jane jetzt?“, erkundigte ich mich weiter.

Die Kinder tauschten einen Blick. Das Mädchen wirkte euphorisch. Der Junge verängstigt.

Langsam glitt der Schürhaken zu Boden.

„Oma Jane starb im Frühjahr. Kurz vor dem Sturm. Da ist Mama auch verschwunden … Seitdem … Seitdem sind wir alleine, weißt du?“

Julies Worte brannten sich in mein Innerstes.

Jane … Jane war tot.

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