M: Ich kann das schon allein!

„Danke, dass Sie ihn gefunden haben. Es kommt nicht wieder vor“, beschwichtigte Sophie die Erzieherin, dessen Kopf den Farbton einer Tomate angenommen hatte.

„Das hoffe ich auch! Ich musste das ganze Gelände nach ihm absuchen!“, schrie diese immer noch erbost.

So erbost, dass Tyler sich weiter hinter seine ältere Schwester schob.

„Und dafür danke ich Ihn-“

„Dank, dank, dank!“, wiederholte die Erzieherin verächtlich, „Du kannst eurer Mutter ausrichten, dass der Betreuungsvertrag so nicht aufrecht erhalten werden kann! Kinder in dem Alter müssen sich beneh-“

Etwas in Sophie verkrampfte sich. Entschlossen drückte sie den Rücken durch. Sie starrte die Erwachsene eindringlich an. Dachte an das Häufchen Elend, das ihr Bruder war.

„Bei allem Respekt – ist es nicht Ihre Aufgabe auf die Kinder aufzupassen? Wie können Sie Tyler einen Vorwurf machen, wenn Sie es doch waren, die Ihre Aufsichtspflicht vernachlässigt hat?“

Der geschockte Blick der Frau holte sie in die Realität zurück. Zügig biss sie sich auf die Zunge und drückte die Hand ihres Bruders beschwichtigend.

Sie mussten hier raus!

„Ich … Ich darf doch sehr bit-“

„Einen schönen Tag noch“, beharrte Sophie und eilte mit Tyler hinaus.

In ihrem Kopf drehte sich alles. Bestimmt würde es ein Nachspiel geben! Sie war eine Neunjährige. Ein Kind, dass die Erzieherin ihres Bruders angefahren hatte! Sie konnte schon das Telefon daheim klingeln hören. Sobald ihre Mom Wind von dem Ausbruch bekam, würden die Strafen nur so auf sie einhageln.

Sie war immerhin Sophie. Die unbeliebte Tochter.

Nicht Tyler. Nicht Marie.

„Entschuldige … nur wegen mir hat dich die doofe Kuh angeschrien“, flüsterte ihr Bruder, als sie in die ruhigeren Straßen einbogen.

„Auch wenn sie sich daneben benommen hat – beleidige sie bitte nicht, ja? Es … Es tut mir leid. Nach meinem Ausbruch wird sie dich bestimmt auf dem Kicker haben“, erwiderte sie und ließ ihn los.

Tyler mochte es, wenn er allein laufen durfte.

Dieser nickte nur still. Generell wirkte er ziemlich geknickt. Es war ihr schon am Morgen aufgefallen. Wieso hatte sie nichts gesagt? Hatte sie wirklich geglaubt, dass er sich schon wieder fangen würde?

Dabei hatte sie doch schon da dieses komische Gefühl …

„Na, sag schon: Warum bist du aus dem Kindergarten ausgebüxt? Hat dir das Essen nicht geschmeckt?“

Sofort zog ihr Zwerg eine Schnute: „Das Mittag dort ist widerlich! Dafür würde ich jeden Tag fünfmal abhauen!“

„Aber bislang hast du es artig gegessen.“

„Du bist ja nicht daheim, um mir etwas anderes zu machen.“

„Nun, dann liegt es nicht an den Milchnudeln heute?“

„Mmh.“

Schweigen.

Geduldig wartete Sophie darauf, dass ihr Bruder wieder das Wort ergriff. Sie glaubte, bereits hören zu können, wie er unschlüssig den Mund öffnete und schloss. Als könnte er sich nicht recht entscheiden.

Fühlte er sich zu genötigt, zu antworten?

„Ich wollte mehr … wie du sein …“, gestand er langsam.

Verdattert blieb sie stehen. Eigentlich konnte sie ihren Ohren sonst trauen. Nun jedoch … Sie war nichts Besonderes. Nein. Viel eher war sie das Mädchen, das von allen gehänselt wurde. Das Kind, das von der eigenen Mutter verachtet wurde. Das sich stets allein durch die Welt schleichen musste.

Was war an ihr schon begehrenswert?

„Wie ich?“

Nicken.

Sie schluckte.

„Tyler … Ich glaube nicht, dass du … also …“

„Du kümmerst dich daheim um alles. Und du und Marie, ihr seid nicht in den Kindergarten gegangen. Also hast du schon damals alles selber machen müssen, oder? Nun. Ich will das auch! Ich will auch allein daheim bleiben und auf mich aufpassen. Ich kann das schon!“

Stur baute er sich vor ihr auf: Hände in die Hüften gestemmt. Sein Gesicht zu ernst für die kindlichen Züge. Aber am meisten faszinierte sie seine Stimmlage.

Er war so viel mutiger als sie.

„Tyler … Ich glaube nicht, dass-“

„Nein! Ich würde es schaffen! Ich könnte den ganzen Tag ganz allein auf mich aufpassen. Ich kann das!“

„Ich weiß.“

Ihr Geständnis ließ ihn innehalten. Blinzelnd starrte er sie an. Beinahe so, als glaubte er, zu träumen.

„Aber du wolltest mir doch gerade etwas anderes sagen, oder?“

„Etwas anderes? Ja, irgendwie schon …“, mit einem Kopfnicken wies sie ihn an, weiter zu gehen, „Marie und ich waren damals nicht allein Zuhause. Ich glaube, wir waren es noch nie … Du warst ja dann später immer mit da.“

„Also musstet ihr doch in den Kindergarten?“

Eine entfernte Erinnerung schlich sich an Sophie an. Ein laufender Plattenspieler. Märchen. Gebackene Plätzchen …

Dennoch konnte sie sich das Gesicht der liebevollen Nachbarin nicht mehr vorstellen.

War es schon so lange her?

„Mrs. Kleid hat damals auf uns aufgepasst. Sie hatte in der Parallelstraße gewohnt. Sie war ziemlich alt und wohl auch gebrechlich … glaube ich. Mom war noch mit dir schwanger, als sie starb. Danach musste sie wegen irgendwas Zuhause bleiben, deswegen blieben wir auch da.

Marie und ich wurden nie uns selbst überlassen.“

Zumindest nicht gemeinsam, dachte sie traurig.

Ja. Solange es um beide Zwillinge ging, war immer jemand da gewesen. Selbst wenn Marie krank wurde, blieb ihre Mom oder ihr verpeilter Vater daheim. Nur bei Sophie sah es anders aus.

Sophie war die Ältere. Sie musste auf sich aufpassen können. Sie musste Tyler aus dem Kindergarten abholen. Sie musste sich um die Brotdosen kümmern. Stets musste sie einspringen, aushelfen, für Ordnung sorgen …

Es war nicht so, dass ihre Eltern es von ihr verlangten. Viel mehr erledigte sonst niemand die üblichen Aufgaben, die im Haushalt anfielen. Und wenn dann Unfälle oder Probleme daraus resultierten …

„Also … diese Mrs. Kleid … Sie hat auf euch aufgepasst?“, fragte Tyler ganz kleinlaut und kickte eine Kastanie über die Straße.

„Genau. Sie hat Essen gemacht, uns in den Mittagsschlaf geschickt und dafür gesorgt, dass wir unsere Medizin tranken, wenn wir krank wurden“, erklärte Sophie ruhig.

„Ah-ha…“

„Du stehst uns also in nichts nach. Keine Sorge“, führte sie nochmal aus.

Nun blieb Tyler wieder stehen. Doch sein Stottern sprach davon, wie unangenehm er die Situation empfand. Als würde er sich seiner schämen.

Gut. Dann würde er zumindest nicht so bald den Kindergarten schwänzen!

„Du … du sagst Mom nichts?“, bekam er endlich flüsternd hervor.

Mom? Davor hatte er Angst? Dabei würde sie ihm gegenüber nur einmal mit dem Finger drohen. Bei Sophie jedoch …

Gewiss würde ihre Mutter sie für den ganzen Schlamassel verantwortlich machen. Sie hatte der Erzieherin die Stirn geboten. Sie hatte Tyler erzählt, dass sie und Marie nie in den Kindergarten gingen. Sie hatte dabei nicht klar gemacht, dass stattdessen die alte Nachbarin für sie dagewesen war.

Die liebe Mrs. Kleid …

Hieß sie wirklich so? Irgendwie wirkten die Erinnerungen zu schwammig …

„Ich sage nichts … Keine Sorge“, stimmte Sophie ihrem Bruder zu und drückte ihn an sich, „Jedoch könnte es sein, dass du noch Probleme im Kindergarten bekommst … Vor allem, nachdem ich die Erzieherin so-“

„Das ist schon in Ordnung!“, Tylers grinsendes Gesicht erfüllte sie mit Wärme, „Ehrlich gesagt, war ich überglücklich! Du hast dich so toll für mich eingesetzt … Das hat sonst noch nie jemand gemacht!“

Erleichtert atmete Sophie auf und spürte, wie ihr ein riesiger Stein vom Herzen abfiel.

Ihr kleiner Bruder … er war überglücklich mit ihr gewesen.

Mit. Ihr!

„Na los. Ab nach Hause, ja?“

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