B: Der Talisman

Der Brief begleitete sie tagein, tagaus: Zum Schlafen legte sie ihn unters Kopfkissen. In der Schule steckte er in ihrer Hosentasche. Beim Duschen lag er direkt auf ihren Wechselsachen. Nach wenigen Tagen hatte sie ihn schon so oft gefaltet, dass er an den Kanten auseinanderfiel! Aber da sich jedes Zeichen davon bereits in ihren Kopf gebrannt hatte, scheute sie sich nicht, ihn auch durch das Laminiergerät zu schieben.

So war es sicherer. Nur so konnte niemand versehentlich über den Inhalt stolpern. Weder ein Klassenkamerad …

… noch ihr Vater.

„Wann willst du eigentlich mit Oli reden?“, riss Shiloh sie aus ihren Gedanken und überrascht erkannte Liane, wer direkt vor ihnen zur Schule lief.

„Ich … Ich weiß nicht, was ich sagen soll“, gestand sie leise und drosselte sofort das Tempo.

Wieso lief ihr der Junge auch überall über den Weg?!

Oder kam es ihr nur so vor?

„Dann fang doch genau damit an. Aber den Knaben hängen zu lassen, ist ganz schön gemein, hm?“, bohrte ihre Freundin weiter.

Das mochte vielleicht sein. Immerhin war seine … Liebeserklärung ja nur … anderthalb Wochen her?!

Unruhig tastete sie nach ihrem Talisman, wie sie den Brief nun gedanklich immer nannte. Dieses Schriftstück gab ihr eine innere Stärke, die sie sich sonst nur erträumt hätte. Etwas an den Worten beruhigte ihre Seele. Etwas, was sie sich nie erhofft hätte …

Oder bildete sie sich das nur ein?

„Du hast ja Recht … Aber ich würde ungern vor den anderen mit ihm reden“, murmelte sie.

„Wenn das eine Ausrede werden soll, war die davor um Welten besser“, bemerkte Shiloh unverblümt.

„Nein!“, erschrocken schaute sie zu Oliver, der ihr einen kurzen Blick zuwarf und sich wieder umdrehte, um mit einem Freund zu reden, „Nein“, wiederholte sie nochmal leiser, „Ich wollte nur wissen, ob du einen Ort kennst, wo wir ungestört reden könnten. Ohne zu viele Zuschauer oder so …“

„Privatsphäre, huh?“, ihre Freundin verschränkte die Arme, „In der Schule oder geht’s auch woanders?“

„Glaubst du, mein Vater lässt mich nochmal irgendwohin?“

„Auch wieder wahr. Aber so wirklich Ruhe wirst du in unserer Schule wohl kaum finden. Dafür sind die geheimen Orte zu sehr fürs Knutschen bekannt. Außerdem könnte er es auch gleich als Aufforderung missverstehen, weißt du?“

„Hm“, mehr brachte Liane nicht raus. Ihre Hand war erneut in die Hosentasche gerutscht. Zu ihrem Talisman. Sie strich mit dem Daumen darüber. Rief sich die Botschaft ins Gedächtnis.

„Du könntest vielleicht einen Umweg nach Hause nehmen und dann mit ihm quatschen? Wäre jedoch genau zur Stoßzeit. Das kann auch nach hinten losgehen. Vor allem, wenn Betty das spitz kriegt. Sie scheint ja zu denken, dass das mit euch nichts mehr wird. Wenn doch …“, Shiloh wedelte wild mit den Händen durch die Luft.

„Kategorie Kindergarten?“

Erschrocken blieb Liane stehen. Sie hatte es nicht so abfällig klingen lassen wollen! Wieso hatte es sie so genervt? War es nicht normal für ihr Alter? Dass Jugendliche einen Crush an irgendwem hatten und deswegen fast jähzornig wurden? An ihrer alten Schule war es nicht anders gewesen. Nur musste sie sich damals kaum mit dem Zickenkrieg herumschlagen, weil sie nie ins Rampenlicht gestoßen wurde.

Lag es daran? An der Aufmerksamkeit?

„Woah. Also. Ich sehe es nicht anders, aber aus deinem Mund? Alles gut?“, holte ihre Freundin sie zurück.

Sie waren einen Block von der Schule entfernt. Direkt unter einer großen Kastanie, deren Blätter die Sonne gierig verschluckten. Der Schatten war angenehm. Beruhigend. Lilith mochte den Schatten. Er-

Nein! Liane! Sie war Liane Rivers! Wie kam sie schon wieder auf Lilith?

Sofort riss sie die Hand von ihrem Talisman und zerrte ihn dabei beinahe mit aus der Tasche. Eilig umklammerte sie den Riemen ihrer Schultasche. Sie atmete durch.

Chemy würde sich um alles kümmern. Er hielt seine Versprechen. Da war sie sich sicher!

Auch wenn sie immer noch nicht wusste, wer dieser Chemy wirklich war …

„Ja. Wird schon. Ich … Ich werde vielleicht in der Bibliothek mit ihm reden. Da bin ich beim letzten Mal auch untergegangen“, überlegte sie laut.

„In der Bib? Bei der alten Schreckschraube?“

Schulterzucken. Eine bessere Idee hatte sie nicht. Obwohl … was, wenn sie sich dort an die Zeichnungen erinnerte und sich deswegen nicht auf das Gespräch mit Oliver konzentrieren konnte? Möglich wäre es …

Möglich wäre alles!

Genau. Sie musste nur den Blickwinkel wechseln. Was, wenn sie die Zeichnungen als Anreiz sah, ihr Leben umzukrempeln? Oder sie könnte Oliver mit einweihen? Immerhin hatte er sich so sehr um sie gesorgt, als sie im Flow gewesen war. Wäre es nicht fair, es offen zu erklären? Und wenn er es genau wie Shiloh verstand …

Könnte sie auf seine Liebeserklärung eingehen? Wollte sie das? Eine Beziehung? Durfte sie eine führen?

Durfte?

Wieso durfte? Ihr Vater hätte sicherlich nichts dagegen. Wer könnte es ihr also verbieten? Wer-

Der Talisman kratzte gegen ihren Daumen und erschrocken bemerkte sie, dass sie schon wieder danach gegriffen hatte.

Dafür verschwanden die Sorgen.

Chemy würde sich um alles kümmern.

„Meinst du, wir passen zusammen?“, fragte Liane leise, als sie endlich über den Schulhof liefen.

Wann waren sie weitergelaufen? Hatte sie Shilohs Fragen schon beantwortet? Sie konnte sich nicht erinnern. Sollte sie sich dafür entschuldigen? In letzter Zeit war sie immer wieder neben der Spur … Ob es ihre Freundin nervte?

„Keine Ahnung. Eine Person verändert sich mit jeder Beziehung. Ohne meinen ersten Freund wäre ich nie so schlagfertig geworden, weißt du? Aber das geht in beide Richtungen. Vielleicht stellt sich Oli als Mistkerl raus. Vielleicht als Heiliger. Nur traue keinem Engel, solange du nicht seine Haare zerzaust hast“, sie warf die Tasche auf ihren Tisch im Klassenzimmer – schon wieder war der Weg dorthin an Liane vorbeigegangen, „Da können sich immer Teufelshörner drunter verstecken!“

„Ha, ha“, Liane hoffte, dass ihr Lachen nicht zu hohl klang.

Denn irgendwie hätte sie nichts gegen einen Teufel einzuwenden. Nicht jeder Teufel war böse. Es gab auch den, der früher über sie gewacht hatte. Der sie beschützt hatte. Der für sie wie ein …

Wie ein …

Ein …

Was war er für sie gewesen?

Nachdenklich starrte sie auf ihren Talisman. Er hatte den Weg in ihre Hände gefunden. Er beruhigte sie. Als würde er sie in den Arm nehmen und beschwichtigend auf sie einreden.

Oder waren das nur die Worte, die sie sich selbst in Erinnerung rief?

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