M: Kollateralschaden

Erschrocken schnappte Matt nach Luft, als die kleine Flamme am Herd wirklich aufloderte. Er hätte sie eigentlich erwarten müssen. Sie hatten hier ja einen Gasherd und das leuchtende Feuerchen erschien jedes Mal, wenn seine Mutter kochte. Nur …

Seine Mutter schlief noch selig nebenan.

„Meinst du, das muss noch doller?“, fragte sein Bruder leise und drehte unruhig am Knauf herum.

„Hm … Je heißer es ist, desto schneller müsste das Essen fertig sein und desto früher können wir Mama wecken, oder?“, gab Matt zu bedenken.

Das schien Lucas zu überzeugen. Sicher drehte er den Knauf auf die höchste Stufe und warf Eier und Speck in die Pfanne.

„Du machst dafür Kaffee“, flüsterte der Ältere.

Unschlüssig nickte Matt und kletterte neben der Spüle auf die Ablage ihrer Küchenzeile. Er wünschte sich zurück nach Hause. Dort hatte er alles besser erreichen können oder zumindest gewusst, wo er einen Hocker auftreiben konnte. Aber hier?

Seit Wochen zogen sie von einer Wohnung in die nächste. Es war ein stetiger Rhythmus, der sich immer durch ein Klopfen an der Tür ankündigte. Ihr Vater war seither arbeiten. Ihre Mutter jeden zweiten Tag unterwegs.

Lucas und er hatten stets Stubenarrest.

Seufzend wünschte er sich in das Sommerhaus seines Papas. Dort hätte er wenigstens mit seinem Bruder durch die anliegenden Wälder rennen können. Dort war es friedlich. Dort meckerte niemand. Dort könnten sie alle zusammen sein.

Er vermisste seinen Papa.

„Doch nicht den Kaffee in die Tasse schütten“, durchbrach Lucas seine Gedanken und überrascht schaute Matt auf, „Erst den Filter mit dem Tassenaufsatz rauf.“

„Aber der ist hier nirgends.“

„Schau nochmal nach.“

Murrend durchsuchte Matt die Schränke neben der Spüle. Nichts. Nichts. Und wieder nichts. Da standen nur Putzmittel und alte Flaschen.

„Nicht da“, murrte Matt seinen Bruder an.

„Und beim Abgespülten?“

Langsam sah der Jüngere herüber: „Wenn du den Aufsatz schon da gesehen hast, warum machst du erst nun den Mund auf?“

„Du hast nicht gefragt“, grinste Lucas.

„Okay. Wo sind die Filter?“

Zur Antwort hielt sein Bruder ihm einen entgegen und eilig riss Matt es an sich. Er wusste, dass der andere ihn nur aufziehen wollte. Er wusste, dass es nur Späße waren. Doch irgendwie fühlte er sich nicht danach.

Kaffee. Er musste Kaffee kochen und-

Ein klimperndes Geräusch aus dem Flur beide Jungs aufsehen. Sie starrten einander an. Hörten die Wohnungstür knarren. Grinsten sich an.

„Papa“, flüsterte Lucas aufgeregt und sprang vom Herd weg, „Er kommt bestimmt, um Mom zum Muttertag zu gratulieren. Ich sag’s dir!“

Lachend nickte Matt. Er ließ seinen Bruder zuerst aus der Küche eilen – ansonsten würden ihn der andere nur über den Haufen rennen – und hetzte hinterher. Er freute sich auf das gemeinsame Frühstück. Auf das Gesicht seiner Mama. Auf seinen Papa!

Doch im Flur stand sein Papa nicht. Im Flur standen zwei fremde Männer. Sie waren groß. Groß und breit und kahlgeschoren. An ihren Hosen hingen Metallketten, die bei jedem Schritt leise klimperten. Und Lucas-

Matt konnte gar nicht so schnell gucken, da lag sein Bruder bereits mit blutendem Kopf am Boden. Er rührte sich nicht. Blieb einfach nur still liegen, während der vordere Mann seine Faust ungehalten kreisen ließ.

Wann hatte er Lucas geschlagen? Es ging alles so schnell …

„Hey. Gleich beide Knirpse hier. Deine Alte auch da?“, fragte der erste Mann und trat auf Matt zu.

Ein Zittern breitete sich im Körper des Jungen aus. Er verkrampfte sich. Sollte er sprechen? Schweigen? Rennen? Aber … Lucas! Er konnte Lucas da nicht liegen lassen!

„HEY! Antworte mir gefälligst!“

Als wäre der Ausruf ein Faustschlag gewesen, taumelte Matt zurück. Er landete auf seinem Po. Schluckte.

„We-en meinst-meinst du-u?“

„Na, na“, der zweite Mann schob sich am ersten vorbei. Piercings tummelten sich über seinen Augen. Kleine Ringe, die dort sauber nebeneinander hingen und die fehlenden Haare zu kompensieren schienen, „Wir wollen nur kurz mit deiner Mama reden. Die Journalistin? Wir haben eine Story für sie. Und mein Freund hier“, er klopfte dem anderen gegen die Brust, „war leider etwas übermutig. Bitte entschuldige ihn.“

Kein Wort über Lucas. Keines über das Messer, das der zweite in Matts Richtung wedelte. Das er so beiläufig auf Matt deutete. Das nach Blut zu lechzen schien!

Der Junge klammerte sich im Teppich fest.

„Ma- Mama?“

„Ja, wir wollen zu deiner Mama“, bestätigte der Piercingmann lächelnd.

„Warum“, Matt sammelte all seinen Mut, „Warum habt ihr dann Lucas wehgetan?“

Nun hielt der Typ inne. Nachdenklich sah er zu dem anderen Jungen. Er rümpfte mit der Nase. Zuckte mit den Schultern. Wandte sich Matt wieder zu.

„Kollateralschaden.“

Darauf wusste Matt nichts zu erwidern. Kolleteral… was? War ihnen Lucas denn egal? Wie konnten sie so-

Ehe er etwas sagen konnte, riss der Mann ihn herum und presste das Messer an Matts Hals. Der Junge musste in die andere Richtung starren. Weg von Lucas. Weg von Lucas und zu seiner Mama hin.

Sie trug noch ihre Schlafsachen. Allerdings hatte sie bereits ihre Brille aufgesetzt. Und in der Hand hielt sie ihre Handtasche.

„Lasst meine Söhne frei.“

„Du hast uns nichts zu sagen, Weibsbild! Fresse halten und mitkommen!“, brüllte der erste Mann sie an.

Ihre Mutter blieb jedoch ruhig stehen. Sie zeigte den Einbrechern ihre Tasche, wie eine Trophäe und wirkte dabei so herausfordernd. So sicher.

Nur ihre Augen sprachen von Angst. Angst, die Matt noch nie zuvor gesehen hatte.

„Wollt ihr Geld? Informationen? Ich habe so einiges hier, mit dem ihr aussorgen könnt. Ihr müsst nur meine Söhne in Ruhe lassen und es euch nehmen. Ich möchte nicht, dass sie zu viele Schandtaten in jungen Jahren sehen müssen. Sie sollten noch die Augen davor verschließen können“, verspielt schwang sie die Tasche hin und her.

Ihr Blick fiel auf Matt. Er glich einer Aufforderung. Einer stummen Bitte.

Langsam ließ er seine Augenlider zu flattern.

„Dann würden wir das Zeug gewiss als kleinen Bonus mitnehmen. Oder was meinst du? Cor-?“

Matt spürte, wie sich der Piercingmann umdrehte. Wie die Klinge leicht verrutschte. Wie der Körper hinter ihm plötzlich zuckte. Ein schmatzendes Geräusch. Er fiel. Stieß sich das Knie. Der andere Mann schrie auf. Dann noch einmal. Es knallte.

Stille.

Zitternd lag Matt da. Er presste die Augen zusammen. In der Küche piepte der Rauchmelder. Dann waren da Schritte. Sie kamen näher. Eine Hand auf seiner Schul-

„MAMA!“, er warf sich ihr mit geschlossenen Augen in die Arme. Klammerte sich daran fest. Schluchzte.

„Ist ja schon gut. Sht. Schon gut. Wir müssen hier weg. Dein Bruder braucht einen Arzt, hörst du?“

Matt nickte hastig, konnte aber kaum von ihr ablassen. Seine Hände klammerten sich stets an ihren Beinen fest. Dann an ihrer Jacke.

Erst im Treppenhaus öffnete er wieder die Augen, um nach Lucas zu sehen.

Blut floss seitlich aus dessen Kopf. Es war so viel. So viel!

Stolpernd klammerte sich Matt mit einer Hand am Geländer fest, während die andere bei seiner Mama blieb. Angst durchfuhr ihn. Angst, die erst nachließ, als Lucas unten an der Haustür den Kopf hob, um etwas zu murmeln.

„Mu-Muttertag. All-Alles Gute.“

Erleichtert seufzte Matt und stimmte seinem Bruder sofort zu. Es war das einzige, worauf er sich konzentrieren konnte. Das einzige, was die Männer verdrängte, die plötzlich im Flur gewesen waren!

Ihre Mom hielt inne. Sie starrte ungläubig zwischen den Jungs hin und her. Dann kullerte ihr eine einzelne Träne über ihre Wange.

„Danke, meine kleinen Kavaliere.“

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