B: Aus der Ferne

Chem Wak beobachtete wie Lilith aus dem Fenster sah. Ihr Gesicht erschien ihm etwas blass. Aber vielleicht lag das auch am Schnee, der zwischen ihnen vom Himmel fiel. Durch das Weiß konnte man kaum etwas erkennen und-

Sie wirkte so abwesend. Verschlafen. Übermüdet.

Es war seine Schuld.

„Wie ich’s auch mache, ich mach’s verkehrt, oder?“, murmelte er still. Er dachte an seinen besten Freund zurück. An dessen Gesicht. An die Wut in dessen Augen, als er den Mörder seiner Schwester fand.

„Haben Sie etwas gesagt, Mr. Belial?“, fragte sein Fahrer.

Chem Wak konnte die Unsicherheit in dessen Stimme hören. Berechtigte Unsicherheit, dachte er für sich. Immerhin hatte er als Enoch Belial stets alle Menschen von sich abgewiesen. Ausnahmslos.

Erst durch seinen neuesten Mitarbeiter hatte sich das Blatt gewendet. Immerhin musste Chem Wak doch sichergehen, dass der Neue sich bei ihm wohlfühlte. Dass er nicht kündigte. Dass ihm ausreichend Mittel zur Verfügung standen.

Wie sonst sollte sich Liliths falscher Vater um sie kümmern?!

„Ich war nur in Gedanken“, eröffnete er den unruhigen Augen seines Fahrers, die ihn noch immer beobachteten.

Wieso war die Trennwand überhaupt unten?

„Wir stehen seit zwei Stunden hier. Wollen Sie nicht langsam-“

„Missfällt es Ihnen etwa, mit Warten Geld zu verdienen?“, schnitt Chem Wak dem Mann das Wort ab.

„Nein. Nicht doch. Ich-“, Überraschung legte sich in die Augen des anderen, „Verzeihung, Mr. Belial. Ich wollte Sie nicht aufregen. Ich glaube nur, dass es daheim gemütlicher und vor allem wärmer wäre. Vor allem, nachdem Sie mich gebeten hatten, den Motor abzustellen. Ich möchte nicht, dass Sie sich erkälten.“

Einen Augenblick beobachtete Chem Wak seinen Fahrer. Dann nickte er sachte.

Es war wirklich ganz schön frisch geworden.

„Meinetwegen. Fahren Sie“, er sah zum Fenster zurück, „Immerhin sollten Sie auch bald nach Hause. Heute wird ja irgendetwas gefeiert, oder nicht?“

„Weihnachten“, erklärte sein Fahrer, während er den Motor startete, „Allerdings ist es kaum der Rede wert. Mein Junge glaubt eh nicht mehr an den Weihnachtsmann und Janet macht sich nichts daraus, wenn wir später feiern. Bis zum Mittag ist eh nichts geplant.“

Chem Wak beachtete die Worte kaum. Stattdessen beobachtete er Lilith. Wie sie da am Fenster stand. Wie sie auf ihre Hand starrte. Er glaubte, etwas Rotes daran zu erkennen. Blut? Er hoffte, sie hatte sich nicht zu stark verletzt.

Er wünschte, er könnte sich um sie kümmern … Er wünschte, er-

Nein!

Ruckartig wandte er sich ab. Er schloss die Augen. Bemerkte, dass sein Fahrer wieder schwieg. Hasste diese Stille so sehr!

„Erzählen Sie weiter. Na los. Ist zumindest besser, als dieses dumme Radio“, verlangte er von dem Mann.

Dieser schluckte.

„Nun … Ich … Sind Sie sich sicher? Ich sollte doch sonst nicht so viel reden und-“

„Ich habe meine Meinung eben geändert. Erzählen Sie.“

„Also … Meine Frau bastelt am Weihnachtsmorgen immer Schneeflocken aus Papier. Und mein Sohn schläft gerne bis in den Mittag. Dann tauchen Janets Eltern auf und wir gehen gemeinsam im SeasonStars Essen. Wir nehmen jedes Jahr denselben Tisch. Dasselbe Essen. Und Zuhause gibt es dann die Bescherung. Nichts Großes. Einfach …“

Chem Wak nickte still.

Er hieß die Worte seines Fahrers wie Hintergrundmusik willkommen. Eine nette Abwechslung. Bislang hatte er sich nie groß mit seinem Fahrer beschäftigt. Es war nie nötig gewesen. Nie von Interesse …

Seine Frau hieß also Janet. Und sein Sohn war etwa in Liliths Alter, wenn er sich recht erinnerte. Er machte irgendeinen Sport. Fußball? Nein. Sie hatten darüber gesprochen, als sie Liliths Vater mit den Papieren geholfen hatten. Was war es nur-

Die Kinder würden ab dem neuen Jahr auf dieselbe Schule gehen.

„Wie heißt dein Sohn eigentlich?“, unterbrach er seinen Mitarbeiter.

„Oliver“, erwiderte sein Fahrer vorsichtig.

Chem Wak konnte es dem Mann nicht verübeln.

„Er … Er ist ein guter Junge“, führte der andere aus, „Etwas unordentlich. Aber immer-“

„Verlässlich?“

Sein Fahrer schwieg. Dann nickte der Mann langsam.

„Ja. Verlässlich. Wie Jungs in dem Alter halt so sind“, erklärte er weiter.

„Und Ihnen ist es unangenehm, dass ich nach ihrem Jungen frage?“

Die blauen Augen huschten in den Spiegel. Er besah Chem Wak flüchtig. Riss dann den Kopf zurück auf die Straße und hielt an einer roten Ampel.

„Bei allem Respekt. Sie interessieren sich sonst für niemanden. Aber seit ihrem neuen Mitarbeiter … oder eher dessen Tochter …“

„Halten Sie mich für pädophil?“, unterbrach er den Mann erneut.

Der Blick sprach Bände.

Und Chem Wak musste aus vollster Kehle lachen.

Es war sein erstes Lachen seit Monaten. Nein. Seit Jahren! Es tat gut. Genauso gut wie damals. Als er noch daheim gewesen war. Als Myra seine ganze Familie in Angst versetzt hatte, weil sie Hunger bekam und jeder sich auf ihre Speisekarte gedacht hatte.

„Mr. Belial?“, die verunsicherte Stimme seines Fahrers ließ die Erinnerung zerspringen.

Dabei war es eine so schöne gewesen …

„Für diesen Witz würde ich Sie am liebsten befördern“, gestand er dem Mann ein, „Sie erinnern sich an Ihren Vertrag, oder? Die Verschwiegenheitsklausel?“

„Aber natürlich!“

Chem Wak beobachtete den Mann. Er dachte wieder an Lilith. An die Sorgen, die ihr Adoptivvater hegte. Die Sorgen über ihren Zustand. Die Besuche beim Psychologen. Die Tabletten …

Wenn er sie richtig einschätzte …

Früher oder später würde sie sich erinnern. Und dann bräuchte sie Hilfe. Jemand musste ihr beistehen. Jemand, der vielleicht sogar in ihrem Alter war. Jemand, dem sie vertraute. Wenn er es also richtig anstellte …

„Dann wissen Sie ja, dass Sie weder Ihrem neuen Kollegen noch dessen Tochter erzählen sollten, dass letztere meine leibliche Schwester ist“, behauptete Chem Wak und lehnte sich zur Fahrerkabine vor, „Sie sollten wissen, dass ich es nicht zulassen werde, wenn jemand sie verletzt. Und Sie sollten vielleicht ein Interesse daran haben, Ihrem Sohn klarzumachen, dass ich kein ungehobeltes Verhalten Liane gegenüber akzeptieren werde.

Auf der anderen Seite …“, er legte den Kopf schief, „Auf der anderen Seite können Sie sich jedoch sicher sein, dass ich es dankend entlohnen würde, wenn Ihr Oliver ein Auge auf meine Schwester hätte. Natürlich nur, wenn er nichts von meiner Beziehung zu ihr weiß. Es soll sich ja nicht wie Arbeit anfühlen. Eher wie … wie eine Freundschaft.“

„Na- Natürlich“, erwiderte sein Fahrer stotternd.

Die Ampel sprang auf Grün, der andere legte die Hand auf den Heb-

„Verstehen wir uns, Mr. Brume?“

Der Mann riss den Kopf herum, als Chem Wak ihn das erste Mal seit Jahren mit dessen Namen ansprach. Es war sonst nie von Nöten gewesen. Er war ja nur ein Fahrer gewesen. Keine Person, der Chem Wak zu viel Beachtung schenken musste oder wollte.

Nun jedoch?

Wenn Chem Wak dessen Knaben nutzen musste, um Lilith zu beschützen, wurde auch der Mann selbst wieder interessant. Dann wurde er ein Jemand. Dann würde er ihn genauer in Augenschein nehmen.

„Oliver wird sich sicherlich gerne um das Mädchen kümmern, Mr. Belial. Seien Sie unbesorgt!“

Und Bennett Brume lenkte den Wagen über Straßenkreuzung.

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