M: Das ist nicht fair!

„Du hast dich besser zu benehmen, Sophie!“

Erschrocken zuckte das Mädchen zusammen. Zu selten hob ihre Mom die Stimme. Und noch viel seltener erhob sie die Stimme ihr oder Marie gegenüber. Aber seit einer Weile schien ihre Mutter extrem missmutig auf ihre älteste Tochter zu sein. Und diese konnte einfach nicht verstehen, woran es lag!

„Das ist nicht fair … Marie und ich … Wir haben beide-“

„Zieh nicht deine Schwester mit rein!“, donnerte ihre Stimme wie ein Gewitter, „Wer von euch hat das Babyphone runtergeworfen?!“

„Es war ein Versehen!“, rief Sophie verzweifelt aus – sie spürte, wie Tränen aus ihr ausbrechen wollten, „Wir haben doch nur Ball spielen wollen! Marie hat geworfen und ich habe ihn nicht gefangen und dann ist er gegen Dads Tasche. Die hat das Babyphone runtergeworfen. Nicht wir! Wir haben nur-“

Sie brach ab. Plötzlich sah sie zur Seite. Ihre Sicht war weiß. Krisselig. Ihre rechte Wange glühte. Ein Pochen hallte in ihren Ohren wider. Ein stetiges Pochen, das alle anderen Geräusche verdrängte, bis-

„Du. Hebst. Nicht. Deine. Stimme. Vor. Mir.“, Gefährlich leise schlugen die Worte auf Sophie ein. Es war eine unheimliche, stockende Stimme, die ihre Beine in Blei verwandelte.

Ein Schauer rann über Sophies nackte Arme.

Sie nickte zaghaft.

„Entschuldigung“

Langsam fokussierte sich ihr Blick wieder auf den restlichen Flur. Dort war das Schuhregal. Die Garderobe. Ihr Dad, der schulterzuckend neben ihnen stand. Der nichts sagte. Der einfach nichts-

Sophie überkam eine Mischung aus Hilflosigkeit und Einsamkeit.

Nachdem ihre Mutter von dem Missgeschick erfahren hatte, hatte sie Marie zu ihrer Freundin Diana gescheucht. Sie hatte gelächelt und ihrer Schwester ein paar Münzen mitgegeben, damit die Mädchen sich Eis kaufen könnten.

Sophie hatte Zuhause bleiben sollen.

Sophie hatte im Flur warten sollen.

Sophie hatte nun eine geklatscht bekommen.

Das hatte ihre Mom noch nie getan …

Sie verstand die Welt nicht mehr. Sie wusste nicht, ob sie die Welt überhaupt verstehen wollte! Es tat zu sehr weh, die Tränen zu verdrängen. Außerdem vermisste sie die nette alte Tante, die immer auf sie aufgepasst hatte. Dagmar. Ja. So hatte ihre Mom sie genannt.

Aber Dagmar war tot.

Allmählich verblasste das Gesicht der freundlichen Dame hinter ihren Tränen.

„Darf ich … Darf ich bitte auf mein Zimmer?“, presste sie leise hervor.

„Geh mir aus den Augen und wage es nicht, wieder runterzukommen!“

Die kalten Worte ihrer Mom schmerzten mehr, als die Ohrfeige. Es war ein so stechendes Gefühl, dass das Mädchen überkam. Dabei hatte sie sich doch nirgendwo verletzt, oder?

Sophie schob die Gedanken beiseite.

Sie nickte. Senkte den Blick. Schob sich stumm an ihren Eltern vorbei. Schlich die Treppen hoch.

Sie kam sich wie ein Geist vor!

Erst oben angekommen zuckte sie zusammen. Ihre Hand lag auf der Türklinke zu ihrem Zimmer. Direkt neben Maries und Tylers. Sie wollte das Holz am liebsten eintreten und hinter ihr wieder zuknallen. Sie wollte auf sich aufmerksam machen. Sie wollte ihrem Frust freien Lauf lassen!

Aber dann … Ihre Mom würde bestimmt wieder mit ihr meckern. Und vielleicht würde Sophie damit ihren Bruder wecken! Das war die Sache einfach nicht wert …

Also schlüpfte sie auf leisen Sohlen in ihr Zimmer und brach lautlos auf ihrem Bett zusammen.

Das war nicht fair. Das war nicht fair. Das war einfach nicht fair! In letzter Zeit bekam sie ständig Ärger! Immer für die Vergehen, die ihr und ihrer Zwillingsschwester passiert waren oder für jene Dinge, die Marie allein verbrach. Jedes Mal verbog und verdrehte ihre Mom die Worte so, dass Sophie die Schuldige war. Dass Sophie sich besser hätte benehmen müssen. Dass Sophie-

Heute hatte ihre Mom sie zum ersten Mal geschlagen. Und ihr Dad hatte nichts gesagt. Er hatte nur danebengestanden. Wie ein unbeteiligter Passant. Wie ein-

Sie fühlte sich so einsam …

Sophie presste eines ihrer Kissen in ihr Gesicht und schluchzte gepeinigt hinein. Ihr Körper bebte. Sie wollte schreien! Sie wollte nicht schreien. Sie wollte auf etwas einschlagen! Sie wollte auf nichts einschlagen. Sie wollte ihr Kissen von sich werfen!

Sie wollte ihr Kissen nie wieder loslassen …

Ein paar Rufe fingen sich in ihren Ohren und zitternd schielte Sophie über den weichen Gegenstand. Ihr Fenster stand offen und sie hörte den Alltag in ihr Zimmer hallen: Nachbarn, die sich unterhielten oder den Rasen mähten. Kinderrufe. Ihre Mom, die ihrem Dad unten irgendetwas erzählte.

Trotzig wandte sie sich ab.

Die Welt kam ihr so falsch vor … Sie war so-

Sophie hielt inne und starrte auf die Wand zum Nachbarzimmer. Hatte sie sich das nur eingebildet? Nein! Da war es schon wieder! Da war-

Das Mädchen wandte sich zügig ab. Sollte Tyler doch meckern und schreien! Nur wegen ihm hatten sie ein Babyphone und nur wegen ihm-

Sie hielt mit den Gedanken inne, als sie sich plötzlich vor seiner Zimmertür wiederfand. Erschrocken bemerkte sie, dass sie ihr Kissen drüben zurückgelassen hatte. Sie sah nochmal zurück.

Dann trat sie hinein und an sein Babybettchen. Sie starrte auf seine kleine Form. Auf diese winzigen Händchen, die paar Haare, die-

Er konnte nichts für ihre Mom.

Stumm rannen Sophie die nächsten Tränen übers Gesicht, als sie sein meckerndes Quietschen vernahm. Sie konnte es kaum glauben, dass sie ihrem hilflosen Bruder die Vergehen ihrer Mom anlasten wollte! Wie konnte sie nur so dumm sein? Ja, wegen ihm hatten sie ein Babyphone. Na und? Das änderte auch nichts an der Reaktion ihrer Mom oder gar an der Ohrfeige!

„Ist scho-“, Sophie schluchzte und wischte ihre Tränen weg, „Ist schon gut, mein Kleiner. Schon gut“, zitternd nahm sie ihn hoch und drückte ihn an sich, „Alles gut … Ich bin da.“

Er war schwerer, als er aussah.

Unbeholfen bugsierte sie Tyler in ihren Armen umher. Jedoch schien er sich kaum beruhigen zu wollen. Stattdessen meckerte er weiter und schlug mit seinem Köpfchen immer wieder gegen ihre Schulter.

„Ich darf nicht runter … Selbst nicht, um Mom zu holen. Und … Ich glaube, dass Marie und ich dein Babyphone kaputtgemacht haben. Sonst wäre Mom sicherlich schon hier …“, erklärte sie ihm ruhiger.

Jedes Wort entspannte sie mehr.

Doch sie entspannten nicht ihn.

Mit kontinuierlichem Elan schien er Anlauf zu nehmen und seinen Mund immer heftiger gegen ihre Schulter zu hämmern. Beinahe so, als suche er-

„Hast du Hunger?“, die Frage kam Sophie direkt mit der Aussprache so dumm vor, „Natürlich hast du Hunger … Deine letzte Milch ist schon ein paar Stunden her. Aber ich …“

Sie blickte in den Spiegel, der in Tylers Zimmer hing. Ein großes Ding, das den ganzen Raum einzufangen schien. Sie kam sich so klein und unscheinbar vor. Und dennoch …

Entschlossen nickte sie sich selbst Mut zu.

Von ihren Eltern würde sie keine Unterstützung bekommen.

„Gib mir ein paar Minuten, ja? Ich beeile mich!“

Zügig legte Sophie ihn in sein Bettchen zurück und steckte ihm einen Nuckel in den Mund. Dann schlich sie sich runter in die Küche und füllte still etwas Wasser in eine von Tylers Flaschen.

Die Stimmen ihrer Eltern drangen vom Fenster aus herein. Ihre Mom erzählte noch immer irgendetwas Unbedeutendes, ihr Dad stimmte mit gelegentlichem „Huh …“ zu. Sophie blendete es aus. Stattdessen kämpfte sie sich stumm durch die Zubereitungserklärung. Sie befolgte sie zügig und genau. Immerzu besorgt, dass sie zu lange brauchen würde. Dass Tyler zu lange Hunger leiden müsste.

Dass ihre Eltern sie erwischen konnten, bereitete ihr hingegen weniger Kummer.

Wenige Minuten später war sie wieder oben und hielt ihren wimmernden Bruder erneut in den Armen. Sie setzte sich mit ihm in den großen Sessel und sobald er das Fläschchen bekam, sog er gierig daran. Interessiert beobachtete er sie beim Trinken. Seine Hände öffneten und schlossen sich. Seine Füße streckten und reckten sich.

Sophie fühlte sich so schäbig. Das Babyphone war wegen ihr kaputt. Wahrscheinlich hatte sie die Ohrfeige wirklich verdient … Immerhin hatte ihre Mom Tylers Rufe nicht vernommen. Sie war nicht gekommen. Obwohl sie sonst schon beim kleinsten Geräusch hochhetzte.

Es war Sophies Schuld …

Und dennoch war da diese leise Stimme in ihrem Kopf.

Das ist nicht fair.

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