
„Immer schön ruhig bleiben, ja? Nicht schreien. Nicht umhertollen. Ihr wollt eure Mom doch nicht stressen, oder?“
Bestätigend riss Sophie ihren Kopf hoch und runter. Die Reaktion ihres Zwillings hingegen fiel stockender aus. Marie hatte einfach einen zu schlechten Tag gehabt. Außerdem schien ihre Schwester noch mit den gestrigen Neuigkeiten zu kämpfen. Immerhin hatte ihr Vater da nur nebensächlich von der schwierigen Geburt ihres Brüderchens berichtet. Er hatte jegliche Probleme und medizinischen Eingriffe freudig erläutert, hatte jede noch so problematische Aktion der Ärzte unbeeindruckt wiedergegeben-
-und war dabei kein einziges Mal auf Maries Ängste eingegangen.
„Werden Mama und Tyler lange hierbleiben?“
Sophie warf ihrem Zwilling einen Blick zu. Sie wünschte sich, ihrer jüngeren Schwester helfen zu können. Sie wünschte sich, ihre Sorgen zu lindern und sie wieder lächeln zu sehen.
Ihr Dad vernahm die zaghafte Frage in seiner Euphorie jedoch nicht.
„Tyler ist noch sehr klein. Ihr müsst also vorsichtig sein. Immer vorsichtig sein. Er ist ja gerade mal einen Tag alt, ja? Einen Tag. Ja. Erst einen Tag-“, er begann wieder Stuss zu reden.
„Sie werden bestimmt bald wieder nach Hause dürfen“, wandte Sophie sich also an ihren Zwilling, um diesen zu beruhigen, „Du kennst doch Mom! Sie wird in null Komma nix hier raus wollen. Und dann können wir sehen, wie Meowy auf Tyler reagiert! Das wird bestimmt lustig!“
Marie wirkte nicht überzeugt.
Sie kannten einander einfach schon zu lange. Sie wussten, wann sich der andere etwas ausdachte oder wann er sich einfach etwas an den Haaren herbeizog. Außerdem schien Marie eh jede von Sophies Lügen sehen zu können.
„Wenn du meinst …“
Auf mehr durfte die Ältere nicht hoffen.
Als sich die Fahrstuhltüren öffneten, schlugen die Geräusche auf die Stroms ein. Babys schrien. Frauen stöhnten. Qualvolle Jauchzer schallten durch die Flure. Sophie hörte etwas gurgeln. Da knatterten Räder über den Boden. Gespräche. Rufe. Weihnachtsmusik. Piepen. So viel schrilles Piepen!
Eine Gänsehaut schlich über ihre Arme. Sie schluckte. Dann erblickte sie ihre Schwester. Ihre Schwester, die immer noch in ihren Sorgen gefangen schien. Ihre Schwester, für die sie stark sein müsste.
„Na, komm schon“, sie zog ihren Zwilling hinter sich her, „Wir kriegen das schon hin. Das wird schon. Es muss.“
Aber ob sie die Worte sprach, um sich selbst zu beruhigen oder Marie, wusste sie nicht sagen.
„Mom hätte hier wegen dem Jungen sterben können.“
Die gehauchten Worte waren so leise gesprochen, dass Sophie sich nicht sicher war, sie wirklich vernommen zu haben. Eine Abneigung hatte die Worte begleitet. Eine harsche Ablehnung. Ein Hass?
Etwas umschloss ihre Eingeweide.
Dann glitt es wieder von ihr ab.
Sie dürfte sich nicht fürchten!
„Mom geht es gut“, murmelte sie still, „Unserem Brüderchen geht es gut. Selbst Dad und Meowy sind wohlauf. Wir müssen nur daran glauben und dann wird es auch so bleiben. Du wirst schon sehen!“
„Was wird sie sehen?“, ihr Dad schien aus seinem Traum erwacht zu sein.
„Dass alles gut wird!“, Sophie strahlte ihn an – so aufmerksam war er schon lange nicht mehr gewesen, „Ihr werdet schon sehen!“
„Du bist zu verträumt …“
Maries Worte zogen ihre Aufmerksamkeit auf sich.
„Was meinst du?“
Marie schüttelte den Kopf. Es war eine simple Geste. Eine simple Geste, die dennoch so viel Ausdruck enthielt. Sophie müsste ihre Schwester definitiv später danach fragen!
Nun fand sie sich allerdings schon in einem Patientenzimmer wieder. Hier war es still. Die Geräusche der Stationen fanden ihren Weg nicht durch die geschlossene Tür. Hier herrschte Frieden.
„Schön leise bleiben“, flüsterte ihr Vater, „Weckt sie nicht.“
Neugierig beugte sich Sophie näher in den Raum. Sie wagte es nicht, einen weiteren Schritt zu laufen. Was, wenn ihre Sohlen knirschten? Was, wenn sie gegen etwas poltern würde? Selbst von hier aus konnte sie die Jacke ihrer Mom erkennen. Da hinten. Das Kleidungsstück lag vergessen auf einem Stuhl. Daneben ein kleines Bettchen. Und daneben ein Bett mit ihrer Mutter.
Sie reckte den Hals und erschrak beinahe, als ihre Schwester trotz der Anweisung ihres Vaters das Wort erhob.
„Mom ist doch wach, Dad!“, Erleichterung klang in ihrer Stimme mit. So viel Erleichterung, dass sie Sophie beinahe erdrückte. Und sicher doch! Da lag ihre Mom mit offenen Augen und etwas Kleinem an ihrer Brust.
„Na, kommt schon, meine Süßen“, begrüßte sie die Neuankömmlinge.
Sophie musste sich zusammenreißen, nicht loszusprinten. Stattdessen griff sie nach Maries Hand und ließ sich von dem Tempo ihrer Schwester leiten. Denn ihrer Schwester vertraute sie. Ihre Schwester war ihr Anker.
Und dann sah sie auf den Säugling in den Armen ihrer Mutter.
„Er ist so klein“; hauchte Sophie, als sie ihren winzigen Bruder das erste Mal erblickte.
„Und total verschrumpelt!“, bemerkte ihr Zwilling ungehemmt.
„Das legt sich noch“, lachend zog ihre Mom Marie näher, „So klein wart ihr auch einmal.“
Sophie nickte. Sie hörte, wie sich ihr Dad näher schob. Seine Füße schliffen über den Boden. Seine Hand legte sich schwerfällig auf ihre Schulter.
Es fühlte sich seltsam und wunderschön zugleich an, diesem Baby gegenüberzustehen. Über Monate hinweg hatte ihre Mom dieses Wesen in ihrem dicken Bauch umhergetragen. Und nun?
Zögerlich streckte Sophie die Fingerspitzen aus, riss sie aber sofort wieder zurück.
Durfte sie ihren Bruder überhaupt anfassen?
„Alles in Ordnung, Süße?“, fragte ihre Mom mit angespannter Stimme.
„Tyl… Tyler … Darf ich … Ich möchte …“, Sophie kaute auf ihrer Unterlippe herum. Wie sollte sie diese Frage nur stellen? Sie hatte doch mitbekommen, wie ängstlich ihre Mom während der Schwangerschaft gewesen war! Und nun kam sie undankbares Mädchen an und wollte sich zwischen ihrer Mom und ihrem Bruder drängen?
Die Hand ihres Vaters wirkte plötzlich so viel schwerer auf ihrer Schulter.
„Du möchtest ihn auf den Arm nehmen?“
Sophie nickte, wenngleich sie ihn doch eigentlich nur einmal berühren wollte. Es überraschte sie einfach so sehr, wie gelassen ihre Mutter bei den Worten blieb. Als wären die Sorgen nur ein Schatten der Vergangenheit.
„Ja … Ich … bitte! Ich möchte ihn auch mal halten. Ich … Er ist doch mein kleiner Bruder!“
Ihre Mom lächelte plötzlich so herzlich.
Dann deutete sie nickend auf den Stuhl neben ihrem Bett: „Hinsetzen. Popo an die Rückenlehne. Und immer den Kopf stützen, ja? Sein Hals ist noch nicht so stark.“
Sophie kam den Aufforderungen eilig nach. Sie spürte eine neue Euphorie in sich erblühen. So viel Liebe und Glückseligkeit stiegen in ihr hoch, dass sie die Gefühle kaum zu benennen wusste!
Und dann hielt sie ihren kleinen Bruder in den Armen.
„Ty… ler… Tyler“, er war so viel schwerer als ihre Puppen, aber auch so viel leichter, als sie es sich vorgestellt hätte, „Tyler … Willkommen, mein Kleiner.“
Sophie hauchte ihm einen Kuss auf die Stirn.