K: Die Stimme

Leise stand Jenny auf. Sie erschauderte, als ihre nackten Füße den kalten Holzboden berührten. Doch verbat sie es sich, irgendwelche Geräusche über ihre Lippen zu lassen. Sie musste still bleiben. Das hatte sie sich vorgenommen. Nur so konnte sie hinter die Wahrheit kommen. Nur so konnte sie ihrem Onkel Fred helfen …

Fröstelnd zog sie sich eine viel zu große Jacke über ihr Nachthemd. Die Betreuerin des Waisenhauses hatte sie ihr gegeben. Genauso wie die anderen Kleidungsstücke. Genauso wie das tägliche Brot. Genauso wie das Dach über ihrem Kopf und die Freunde, die sich ihre Stieffamilie schimpften …

Doch im Gegenzug hatte man Jenny ihren Onkel genommen.

Ihren Onkel Fred, der nur die Wahrheit gesagt hatte! Sie hatte es immerhin auch gesehen. Er hatte es ihr gezeigt! Obwohl sie sich selbst jetzt noch unsicher war, was dieses es wirklich war. Aber ihr Onkel Fred hatte es verstanden. Er hatte versucht, die anderen Menschen im Dorf darauf aufmerksam zu machen. Sie zu warnen!

Und dann wurde er vor einem halben Jahr, im kalten Frühjahr, an einem beinahe genauso frostigen Morgen abgeholt. Ein paar Leute hatten ihn mitgenommen. Sie hatten ihn aus dem Haus geschliffen. Hatten ihn geschlagen. Ihn getreten. Ihn weggefahren.

Und Jenny hatte sich zitternd in einem Schrank voller Bettwäsche und Handtüchern versteckt.

Erst Stunden später waren einige der Nachbarn aufgetaucht. Sie hatten das Mädchen gefunden. Sie hatten sie zum Waisenhaus gebracht. Sie hatten eine halbherzige Suchaktionen gestartet. Sie hatten ihren Onkel Fred für verrückt erklärt. Sie hatten aufgegeben, noch ehe die ersten Krokusse erblühten!

Jennys Hand drückte ihre neue Zimmertür auf. Sie vernahm ein leises Rascheln aus dem anderen Bett und erschrocken sah sie zu der Stiefschwester zurück, mit der sie sich ein Zimmer teilen musste.

Diese Anja hatte sich nur verschlafen umgedreht.

Erleichtert atmete das Mädchen durch. Sie spürte, wie alles an ihr zitterte, als sie auf den Flur trat. Sie war sich nicht sicher, ob sie bloß die Gänsehaut kitzelte oder sie es nun doch mit der Angst zu tun bekam. Ihr Onkel Fred hatte immer gemeint, dass Angst etwas Natürliches wäre. Dass das Gefühl ihr helfen würde, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Dass es sie vor Fehlern bewahren würde.

Nicht, dass Jenny es damals verstanden hätte.

Das Verständnis, die Einsicht und die Erleuchtung kamen ihr erst, nachdem er weg war. Danach hatte sie genug Zeit gehabt, um über alles nachzudenken. Sie hatte sich in ihrem neuen Bett verkrümelt. Hatte sich über so vieles den Kopf zerbrochen. Hatte an ihrem Onkel Fred gezweifelt. Hatte bemerkt, dass er nie eine Lüge über die Lippen bekommen hatte. Dass er stets die Wahrheit gesagt haben musste!

Und damit war für sie alles klar. Sie vertraute seinen irrsingen Geschichten. Sie hielt an ihnen fest. Erzählte sie einigen ihrer Stiefbrüder. Beobachtete die Sorge und den Spaß in deren Augen. Lauschte den Lachern, die sie nicht ernst nahmen.

Denn immerhin war sie ja ein Kind. Sie war niemand, den man ernst nehmen musste. Selbst wenn die Erwachsenen von ihren Worten erfuhren, so wurden diese eher für Kindesfantasien als für blanken Wahnsinn abgetan. Sie wurde als niedlich bezeichnet. Ihr wurde der Kopf getätschelt. Und schon war die Sache vergessen.

Perfekt, wenn man hinter die Wahrheiten dieses Dorfes kommen wollte.

Unsicher rieb sich das Mädchen die Arme und lief an einigen der Zimmertüren vorbei. Ihre Stiefgeschwister schlummerten bestimmt noch tief und fest. Aber eine Person war definitiv schon auf. Immerhin konnte sie die Babygeräusche bereits von hier aus hören. Unsinniges Gebrabbel, das von einem Lied beruhigt wurde.

„-in dir. Sechs lässt deine Freunde sehen. Doch Sieben – Sieben wird, für alle Zeit mich an deiner Seite bleiben“, vernahm sie die Stimme ihrer anderen Stiefschwester und sofort blieb sie nahe der Wand stehen.

Für einen Moment dachte Jenny darüber nach, umzukehren. Sie konnte sich einfach wieder ins Bett schleichen. Oder sie konnte sich vorbei zur Toilette stehlen. Ein guter Vorwand, falls irgendjemand sie doch auf dem Flur bemerkte. Was machte sie immerhin hier? Den nächsten Liedern ihrer Stiefschwester lauschen? Würde man ihr das abnehmen? Was, wenn man sie nicht mehr für klein und unschuldig hielt? Was, wenn man sie trotz ihres jungen Alters wegsperrte? Was, wenn ihr alle nur etwas vorspielten? Wenn sie in Wahrheit nur darauf warteten, dass Jenny einen Fehler begehen würde? Bis Jenny ihren Kopf zu tief in diese Geschichten hineinsteckte?

„Und schon schläft er wieder“, bemerkte eine männliche Stimme und plötzlich kehrte Jennys Mut mit einem Schlag zurück, „Der Knirps ist ganz schön pflegebedürftig.“

„Er ist gerade mal ein Jahr alt, Borei.“

Das Mädchen presste ihren Kopf gegen das Holz der Tür. Sie konzentrierte sich auf das Flüstern dahinter. Sog jedes Wort auf. Verbat sich jegliche Sorgen. Hielt an ihrem Mut fest.

Das Wichtigste war, herauszufinden, was sie hörte. Was würde diese fremde Stimme sagen? Wer war sie?!

Denn obwohl sie zu keinem in diesem Waisenhaus passte, so war es definitiv nicht das erste Mal, dass das Mädchen sie vernahm.

„Na und? Das Alter sollte keine Entschuldigung sein“, bemerkte diese Stimme wieder.

Sie war seltsam. Voll und tief, aber mit einer kindlichen Naivität. Eine eigenartige Kombination. Und dennoch … dennoch war sie Jenny bekannt. Sie hatte sie schon früher gehört. Bei ihrem Onkel Fred? Vielleicht … Nur verblasten die Erinnerungen an früher allmählich. Es war, als würden sie sich mit neueren vermengen. Sich verknoten. Verheddern.

Sie musste plötzlich an den Wald denken. An den Wald, in den ihr Onkel Fred so oft gegangen war. In den er sie mitgenommen hatte …

„Ist ja schon gut, mein Lieber. Ich hätte nicht gedacht, dass du so grantig bei ein bisschen Schlafentzug wirst“, ihre Stiefschwester räumte irgendetwas weg. Es scharrte leise und irritiert lauschte Jenny noch angestrengter. Sie musste wissen, was da drinnen vor sich ging. Was hörte sie? Was verbarg die Andere? Was tat sie?

Wer war diese Stimme?!

„Das ist wohl kaum ein bisschen Schlaf-“

Die Stimme brach im selben Augenblick ab, in dem sich die Tür öffnete. Erschrocken sah Jenny auf die blonde Teenagerin, die ihr denselben Blick zuwarf. Die blauen Augen schienen für einen Moment zu flackern. Schienen Jennys Blick einfangen zu wollen. Sie zu röntgen.

Doch konnte das Mädchen einzig auf die rötlichen Augen starren, die hinter ihrer Stiefschwester in der Luft schwebten.

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