
Jessica Naar war genervt. Sie war genervt und wütend. Sauer auf den Tag. Sauer auf ihre Mitschüler. Sauer auf sich!
Ihre Schultasche flog in eine Ecke ihres winzigen, schäbigen Zimmers. Sie warf ihre Schlüssel hinterher, kickte ihre Schuhe neben ihr Bett und ließ sich seufzend darauf fallen. Dann ballte sie ihre Hände zu Fäusten. Entspannte sie wieder. Zählte im Kopf von dreißig runter.
Die Naar kannte das Prozedere. Sie wusste, was heute noch folgen würde. Was immerzu folgen würde. Immerhin war ihr bewusst, dass sie selbst für eine Stadt wie Merichaven den Bogen überspannt hatte. Dass es nur noch eine Frage der Zeit war, bis ihre Mom-
„Alles in Ordnung, Jessi?“
Da stand die Frau auch schon in ihrer Zimmertür. Wenn man das schiefe Holz überhaupt als solches bezeichnen konnte. Immerhin ließ es sich nicht einmal schließen! Besorgt sah sie zu Jessica hinüber und wirkte derzeit weder frustriert noch wütend.
Also hatte die Schule noch nicht angerufen?
„Nur ein Scheißtag“, entgegnete die Vierzehnjährige schulterzuckend.
Sie wäre verdammt, wenn sie ihrer Mom etwas von dem Mist erzählen würde. Egal, was die Vollpfosten in ihrer Klasse auch munkelten – wer würde solchen Ammenmärchen schon glauben? Diese Lügen, mit denen sie ihre eigenen Taten verdecken wollten … Fliegende Mülleimer? Also bitte!
„Ich muss erst in einer knappen Stunde zu meiner Schicht. Willst du noch was mit mir essen? Wir haben zwar nicht viel da, aber ich habe eh keinen großen Hunger“, versuchte Rebekka Naar weiter auf ihre Tochter einzureden.
Das Schuldgefühl durchfuhr Jessica so plötzlich und unerwartet, dass sie es kaum begreifen konnte. Aber ehe sie sich daran festklammern konnte, war es wieder weg. Stattdessen musste sie an das wenige Geld denken, das ihre Mutter als Kellnerin nach Hause brachte. Sie musste an den jähzornigen Vermieter denken. An den leeren Kühlschrank. An die vielen Rechnungen …
„Ich habe schon in der Schule gegessen“, log sie, „Und der Tag war ziemlich anstrengend … Deswegen-“
Das schrille Kreischen des Telefons unterbrach sie. Wie durch ein Fenster beobachtete sie, wie sich ihre Mutter entschuldigte und das Gespräch im Flur entgegennahm. Sie lauschte, wie sich ihre Mom als Rebekka Naar vorstellte. Wie sich ihre Stimme anspannte. Wie sie immer kürzer antwortete. Immer knapper. Wie sie sich verabschiedete.
Das war’s dann also mit dem Haussegen.
„Jessica … Willst du mir irgendetwas sagen?“
Die Frage beinhaltete einen leisen Vorwurf. Aber auch Sorge und so viel Mitgefühl, dass die Jüngere wütend aufschreien wollte. Nein! Sie hatte Mist gebaut! Das wusste sie! Sie war sich zwar selbst jetzt noch unschlüssig, an welchem Punkt sie hätte aufhören sollen, aber sie wusste, dass es ihre Schuld war! Warum also musste ihre Mom sie immer mit solchen Samthandschuhen anfassen?
„Die anderen Kids haben angefangen“, knurrte sie und wandte sich der Wand neben ihrem Bett zu.
„Jessi … Diese „anderen Kids“ behaupten, dass du einen Mülleimer fliegen gelassen hast. Die Lehrer beschweren sich über deine Einstellung ihnen gegenüber. Die Respektlosigkeit, die du immer häufiger an den Tag legst. Der Rektor hat dich deswegen für die nächsten zwei Wochen von der Schule suspendiert. Er will solche-“
„Suspendiert?“, lachend musste sich Jessica nun doch aufrichten und ihre Mom ansehen, „Ich bitte dich! Wir wohnen seit zwei Monaten hier und kein anderer Ort hat mit mehr Kriminalität und Gewalt glänzen können. Und er suspendiert mich wegen Albernheiten? Das haben sich die Anderen doch nur ausgedacht! Mehr nicht!“
„Jessi … Ausgedacht oder nicht – es steht dein Wort gegen das von fast zwanzig anderen Schülern. Außerdem hatte der Rektor immer wieder betont, dass er es selbst nicht glauben wollte. Aber jemand namens Bertold hätte ihn wohl überzeugt. Die alten Namen dieser Stadt haben anscheinend durchaus mehr Macht, als eine frisch Zugezogene.“
„Und wessen Schuld ist das? Du packst doch jedes Mal die Koffer, wenn es nur das kleinste Problemchen gibt! Du benimmst dich wie jemand, der auf der Flucht ist! Ich meine: Centy, Havbolt, Raptioville und diese endlosen kleinen Kaffs dazwischen, deren Namen ich mir kaum merken konnte? Wann sind wir mal länger als ein paar Monate an einem Ort geblieben? Wann sind wir zuletzt-“
„Es reicht!“
Kraftvoll schlug Mrs. Naar gegen den Türrahmen. Staub rieselte von der Decke. Das Holz wackelte. Knirschte. Splitterte. Und Jessica zuckte erschrocken zusammen.
Ihre Augen fanden die ihrer Mutter. Ihrer blonden Mutter, die so viele Jahre älter wirkte. Die so viel erschöpfter aussah. Ihre starken Arme bebten. Blut tropfte von der Faust, mit der die Frau ihren Frust abgelassen hatte.
„Entschuldige“, murmelte die Ältere seufzend, „Entschuldige … Ich hätte nicht überreagieren dürfen … Das war nicht richtig und … Du brauchst so etwas nicht … Egal. Bleibe bitte die nächsten beiden Wochen daheim und versuche, mit dem Schulstoff nicht zu weit hinterher zu hängen. Ich überlege inzwischen wie es weitergeht.“
Stumm nickte Jessica. Sie biss sich auf die Unterlippe und kaute unsicher darauf herum. Sie wollte eigentlich etwas sagen. Gegen diese unsicheren Worte steuern. Ihre Mom herausfordern, endlich mal mehr zu sagen. Endlich das Schweigen zu brechen.
Doch stattdessen wartete sie nur darauf, dass die Frau die Wohnung verließ. Dass sie mit dem üblichen „Hab dich lieb“ zur Arbeit ging. Dass sie Jessica allein in dieser mickrigen Wohnung zurückließ, in der sie kurze Zeit später das übliche Poltern aus der oberen Etage vernehmen konnte. Poltern und Seufzer … Ihr Nachbar hatte also mal wieder Besuch.
Sie ließ die Zeit an ihr vorbeiströmen. Beobachtete erschöpft, wie sich der Himmel draußen verfärbte. Wie es dunkler wurde. Wie einige der Straßenlaternen angingen und surrend ein klägliches Licht ausstrahlten.
Das war doch alles so bescheuert! Sie hatte sich nur gegen das Mobbing dieses blonden Mistkerls ausgesprochen. Und nun? Nun war sie mal wieder die Böse! Und das nur, weil sie sich nicht den Mund verbieten ließ. Wie lächerlich war das denn? Selbst dieser Mistkerl, für den sie sich eingesetzt hatte, hatte ihr letzten Endes den Rücken zugekehrt.
Warum hatte sie sich also nochmal eingemischt? Überall hieß es doch: Lasst die Erwachsenen alles regeln. Wenn etwas passiert, holt euch eine Aufsichtsperson. Die wird das Ganze schon beenden. Bla, bla, bla …
Aber im Endeffekt taten die Erwachsenen doch eh nichts. Sie sahen nur zu, wenn es sie belustigte. Sie guckten weg, wenn sie ansonsten Probleme bekommen könnten. Lächerlich!
Schrill riss sie das Telefon aus ihren Gedanken. Genervt sah Jessica in den Flur. Sie wollte mit niemanden-
„Kannst du nicht mal rangehen, du verdammte-“, die restlichen Worte ihres freundlichen Nachbarn blendete das Mädchen aus. Stattdessen schluckte sie ihre Gefühle herunter. Zwang sich zur Vernunft. Zur Ruhe. Nahm den Hörer gelassen ab. Ignorierte den Frust, der noch in ihrer Brust loderte.
„Naar, hallo?“
„Bist du das? Jessica, Liebes?“, antwortete eine weibliche Stimme vom anderen Ende, „Ist deine Mama da? Ich müsste kurz mit Bekka sprechen“
Irritiert blinzelte sie. Jessica, Liebes? Bekka? Für wen hielt sich diese Frau?!
„Mit wem spreche ich?“, ihre Stimme klang schroffer, als sie wollte. Allerdings vertraute Jessica nicht jedem. Und schon gar nicht jemandem, der sie so schnell so herzlich begrüßte.
Dafür hatte sie sich in ihrem kurzen Leben viel zu viele Feinde gemacht.
„Entschuldige. Als wir uns das letzte Mal gesehen haben, warst du ja noch so klein … Mein Name ist Janice Rico. Ich bin deine Tante und … Ilse … deine Großmutter … Also, sie ist gestern …“, ein Schniefen drang durch die Leitung und verwirrt lauschte Jessica den Stimmen im Hintergrund.
Da war jemand, der auf diese Janice einredete. Stille Worte aus einer tiefen Stimme und allmählich erinnerte sich die Naar wieder an ihre Tante und deren Mann. Diesen Mr. Rico, der ihr vor Jahren mal so sehr auf die Nerven gegangen war und … hatten sie nicht auch noch einen Sohn? Felix oder so. Ein charmanter Zeitgenosse, der glatt nach seinem Vater kam.
„Mom ist morgen früh wieder da. Willst du es dann nochmal probieren?“, fragte Jessica unsicher, als sie plötzlich realisierte, dass die andere Frau weinte.
Und vor solchen Gefühlsausbrüchen wollte sie einzig fliehen.
„Ist wohl besser so … Einen schönen Abend noch“, schluchzte es vom anderen Ende.
„Dir auch.“
Hastig legte Jessica auf. Sie überlegte kurz, das Telefon auszustöpseln, falls die Frau ihre Meinung änderte und gleich noch einmal anrief. Entschloss sich dann aber dagegen. Stattdessen stellte sie nur die Lautstärke des Klingelns herunter und verkroch sich wieder in ihrem Zimmer.
Das war ihr alles zu viel.