B: Mund auf …

Sich mit jemanden unterhalten zu wollen, war eine Sache. Leider war es eine gänzlich andere, das besagte Gespräch in die Wege zu leiten. Zumindest für Liane.

Fünfmal traf sie Oliver noch vor der zweiten Hofpause. Fünfmal wollte sie etwas sagen. Und fünfmal lief sie lieber schweigend davon.

Sehr zu Shilohs Vergnügen.

„Mund auf, eine Prise Ehrlichkeit in die Worte und schon wird es klappen“, hatte diese ihr nach dem letzten Mal zugeflüstert.

Einfacher gesagt, als getan!

Erschöpft strich sie über ihre geflochtenen Zöpfe. Sie wusste nicht, wo ihre Zweifel herkamen. Nur, dass sie sich wie ein Schatten an sie klammerten. Vor allem im Französischunterricht, der ihr eh nicht besonders leicht fiel. Schweigend lauschte sie, wie der Lehrer die Worte tanzen ließ. Sie verstand nicht, wie er seine Gedanken so geschmeidig ausdrücken konnte, wenn sie es nicht einmal in ihrer Erstsprache schaffte.

War sie ein so hoffnungsloser Fall?

Lianes Finger suchten ihren Talisman und sofort kehrte der Mut zurück. Er war die beruhigende Sicherheit, die ihre Seele wog. Sie konnte es schaffen. Ja. Sie brauchte sich keine Sorgen machen. Es war nur ein Gespräch. Wovor sorgte sie sich? Vielleicht wurde eh nichts aus ihr und Oliver!

Doch als sie sich an den Gedanken klammern wollte, bemerkte sie, dass sie sich jemanden wünschte. Wollte sie, dass aus ihr und Oliver etwas wurde? Was empfand sie für ihn? Klar, er war ein Freund. Aber sonst? War es Liebe?

Würde es Liebe werden?

„Ich wollte mir was beim Imbiss holen, kommst du mit?“, fragte Shiloh, sobald die Klingel ertönte.

„Nein. Ich … Ich habe etwas vor“, kämpfte sie hervor.

Sofort hellten sich die Augen ihrer Freundin auf. Sie zeigte ihr zwei gedrückte Daumen. Ein simples Zeichen, das Liane dennoch so unglaublich viel bedeutete. Sie spürte regelrecht, wie die andere hinter ihr stand. Wie sie Liane stützte.

Wie hatte sie zuvor nur allein zurechtkommen können?

Dankend eilte sie durch die Gänge ins Treppenhaus. Vorhin hatte sie Oliver auf dem Weg nach oben gesehen. Sie musste nur nach seinen Klassenkameraden Ausschau halten, dann würde sie ihn schon finden, oder? Immerhin kannte sie einige vom Sehen. Sie musste ihn dann nur ansprechen und-

Da!

Entschlossen schob sie sich an den anderen Schülern vorbei. Sie musste sich beeilen. Oliver lief bereits auf die andere Treppe zu. Wenn sie sich beeilte, könnte sie ihn noch vorher abpassen. Dann musste sie nicht im Sturm der Schülerschaft erneut nach ihm suchen. Das sollte klappen, oder?

Aber was wollte sie nochmal sagen?

Die Zweifel kamen mit einem Schlag zurück. Ungefragt ergriffen sie von Liane Besitz. Sie blieb stehen. Zitterte. Krallte sich an ihrem Talisman fest. Sie wiederholte gedanklich die Botschaft darauf. Schloss die Augen.

Sie würde es schaffen!

„Was machst du denn hier?“, fragte Oliver sie plötzlich und vor Schreck wäre sie fast zurück gesprungen.

Nein. Sie schaffte es. Sie schaffte es. Sie schaffte es!

„Ich wollte zu dir“, es überraschte Liane, wie klar die Worte rauskamen. Unschlüssig blickte sie sich um. Sie schaute nach den anderen Jungen und Mädchen, die sich gerade noch durch den Gang gedrängelt hatten. Aber die meisten waren wieder weg.

Hatten die Zweifel sie aus der Realität gerissen? Oder warum hatte sie nicht mitbekommen, wie es leerer geworden war?

„Oh! Ehm…“, Olivers Augen blitzten auf.

Oh, nein! Wollte er seine Worte zurücknehmen? Obwohl … Er wirkte eher besorgt. Besorgt wegen ihr? Wegen jemand anderem? Sie hatte gehört, dass Betty ihn mochte. Deswegen war Betty ja auch so sauer gewesen, als er ihr seine Gefühle gestanden hatte. Was, wenn Liane mit ihrer Antwort nun zu lange gebraucht hatte? Wenn die beiden nun-

Eilig konzentrierte sie sich auf ihren Talisman.

Nichts überstürzen. Ruhig bleiben. Ja. Sie musste ruhig bleiben. Warum interpretierte sie so viel in einen Blick? Es war nur ein Blick!

„Ich wollte mit dir reden“, erklärte Liane sicherer, „Wegen neulich, als du-“, sie stockte, biss sich auf die Zunge, fing sich wieder, „Als du meintest, dass du mich liebst.“

Für einen Augenblick blieb ihre Welt stehen. Ihr Blick verschwamm. Etwas in ihr schmerzte. Ungefragt erinnerte sie sich an die Bibliothek zurück. An ihre Zeichnungen. An die vertrauten Gestalten auf dem Papier. An Olivers Gesicht …

Er hatte eine solche Angst wegen ihr durchgestanden.

„Es tut mir immer noch so leid, dass ich dich damit so überrumpelt habe“, gestand er etwas leiser und nickte zur Wand rüber.

Sie zögerte einen Moment, ehe sie sich neben ihm niederließ. Zum Hinsetzen musste sie die Beine anwinkeln. Dann käme sie nicht mehr so gut an ihren Talisman. Aber sie brauchte ihn. Sie brauchte ihn!

Vorsichtig ließ sie das einlaminierte Papier in ihre Hand gleiten und kniete sich erst danach zu Boden.

„Scho-on gut …“

„Nicht gut!“, Oliver zog eine Grimasse, „Ich wusste, dass es nicht richtig war. Ich meine, es war so hektisch und unüberlegt. Ich hätte mehr mitdenken müssen. Das war ein Fehler und-“

„Bereust du deine Worte?“

Die Frage platze ungewollt aus ihr heraus. Liane wusste nicht, wo sie herkam. Nur, dass er sie irgendwie gekränkt hatte. Er hörte sich so verdammt unsicher an. Als hätte er nie mit ihr reden sollen! Wenn er nichts von ihr wollte, brauchte er ihr auch nicht so einen Unfug erzäh-

Aber es war kein Unfug, oder?

Ja. Irgendwie glaubte sie nicht daran, dass er sie verletzen wollte. Warum war er also so-

Seine Hand legte sich auf ihre und erschrocken blickte sie von ihrem Talisman auf. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass sie sich abgewandt hatte. Aber als sie in Olivers Gesicht schaute, auf diese angespannten Augenbrauen, auf die zusammengepressten Lippen, auf diesen verletzten Blick …

Warum …?

„Liane, ich habe alles ernst gemeint. Ich hatte nur vor, dich ordentlich zu fragen. Vielleicht, indem ich dich um ein Date bitte oder bei einer Party. Halt, wenn es entspannter ist und du nicht so gestresst bist. Ich bereue meine Worte nicht. Eher die Umstände. Es hätte viel besser laufen können, oder?“

Wenngleich sie die Worte hörte, registrierte sie die Bedeutung nur schleppend.

„Du … liebst mich?“

Er nickte.

Wieso wirkte diese Geste so sicher? Wie konnte er sie lieben, wenn sie sich nur seit ein paar Monaten kannten? Warum sie?

Aber sie liebte ihn doch auch.

Obwohl sich der Gedanke in ihren Kopf schlich, wagte sie es nicht, ihn zu äußern. Lieber schloss sie die Augen. Sie konzentrierte sich auf ihren Talisman. Strich schweigend darüber. Dachte an Chemy.

Chemy kümmerte sich um alles. Sie brauchte sich nicht zu sorgen. Dieses Mal blieb ihr ihre Kindheit.

Ihre Kindheit?

„Liane?“

Hastig schüttelte sie die Sorgen ab und lehnte sich an Oliver. Ja. Oliver war ehrlich. Sie könnte ihm vertrauen. Mit ihm könnte sie das Chaos in ihrem Kopf überwinden.

Sie könnte ihm sogar von den Zeichnungen erzählen.

„Ich glaube, ich liebe dich auch. Es fühlt sich zumindest so an …“, entschlossen blickte sie zu ihm auf, „Tut mir leid, dass ich so lange gebraucht habe.“

Lachend drückte er sie an sich: „Schon gut. Wenn wir die Klatschpresse überstanden haben, können wir alles schaffen.“

Erst nun wurde Liane bewusst, dass sie sich mitten auf dem Flur unterhalten hatten – sehr zur Belustigung mehrerer Schülerinnen. Eilig tuschelten sie miteinander und wiesen immer wieder zu ihnen rüber.

Worauf hatte sie sich da nur eingelassen?

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