
Stumm lauschte ich Timmys Erzählungen über seine Großmutter. So hatte meine Jane noch vor ihrem sechzehnten Namenstag jemanden namens Oliver geheiratet und eine Tochter namens Marianne bekommen. Doch noch ehe das Mädchen laufen konnte, verstarb der Vater. Deswegen zogen die beiden zu dem alten Ehepärchen, das einst Jane aufgenommen hatte. Gutherzig vermachten sie ihnen das Haus. Von daher war das Leben zwar nicht einfach, aber durchaus machbar gewesen.
Einige Jahre später kam ein Reisender ins Dorf. Jonathan. Er war jung, stark, besaß Gold und verfiel Janes Tochter Marianne vom ersten Augenblick an. Auch diese schloss ihn herzlichst in ihr Herz und so hatten sie sich ein gemeinsames Leben aufgebaut. Zuerst kam Margarete, die jedoch alle nur Gretle nannten, dann Timothy und zuletzt die kleine Juliette. Alles war so friedlich gewesen. So traumhaft.
Bis ein anderer Reisender Jonathan beschuldigte, ein Verräter der Krone zu sein. Er wäre an einem Aufstand beteiligt gewesen. Anschuldigungen prasselten auf sie ein. Beleidigungen wurden durchs Dorf geschrien. Jonathan schwor, dass er nichts getan hätte. Dass er unschuldig wäre!
Dennoch ließ er seine Familie zurück und floh in die düstere Nacht, ehe die Soldaten des Königs erschienen.
Jane hatte alles getan, um die Männer zum Umkehren zu bewegen. Sie war ruhig und höflich geblieben. Sie hatte sich nicht kränken, sich nicht reizen lassen. Stattdessen war sie geduldig geblieben. Ja, Timmy beschrieb sie als so gelassen, dass ihm alles wie ein Traum vorkam! Beinahe wären die Soldaten wieder abgezogen. Sie hatten sich schon verabschiedet. Sich sogar bei Jane entschuldigt!
Dann hatte sich Margarete eingemischt.
„Gretle hat Papa immer vergöttert. Es war ihr schon so schwergefallen, vor den Dorfbewohnern nichts zu sagen. Aber dann hat einer der Männer auf den Boden gespuckt und Papa verflucht. Da ist es mit ihr durchgegangen“, erklärte Timmy grimmig.
Er schauderte und zum ersten Mal übernahm Julie das Wort.
„Sie haben behauptet, dass Gretle Papas Verbündete wäre. So konnten sie Gretle mitnehmen. Mama wollte sich wehren, aber Oma hat es verboten. Erstmal sollten sich alle beruhigen“, murmelte das Mädchen.
Das war ein Scherz oder? Wütend sprang ich auf und die Flammen erstrahlten in neuem Glanz.
„Das kann nicht sein! Jane hätte ihre eigene Enkelin nie im Stich gelassen! Sie-“, schoss es aus mir heraus.
„Nein!“, eilig schüttelte der Junge den Kopf, „Sie ist am nächsten Tag zu den Soldaten und handelte eine Begnadigung für Gretle aus. Dafür musste Gretle jedoch irgend so einen alten Kerl aus dem Nachbardorf heiraten. Mama war richtig sauer. Aber Oma Jane meinte, dass Gretle sonst für ihre Worte hingerichtet werden würde. Dass sie nur so leben könne.“
Eine … Zwangsehe?
Überrascht sackte ich zu Boden. Die Schattenspiele wurden ruhiger und erst nun erkannte ich, wie wild das Feuer getanzt war.
„Und nachdem Oma Jane im Frühjahr starb, ist Mama zu Gretle, um sie zurück zu holen“, erzählte Julie weiter, während sie an ihren Ärmeln herum fummelte, „Mama … Mama hat uns nicht mehr lieb …“
Obwohl sie traurig klang, weinte das kleine Mädchen nicht. Sie blieb so gefasst, sitzen, dass es mir wehtat. Dabei war sie doch noch so jung. So unschuldig und dennoch von der Welt verraten. Sie …
Sie war Jane so ähnlich, dass es schmerzte!
„Das stimmt ni… Ich meine …“, Timmy haderte mit den Händen herum.
„Tut es doch! Mama ist direkt nach Omas Tod los. Wir waren ihr egal. Wir sind ihr egal. Es geht ihr nur um Gretle. Immer nur um Gretle …“
„Vielleicht ist ihr unterwegs etwas zugestoßen?“
„Trotzdem hat sie uns hier allein gelassen, oder?“
„Aber wenn sie eigentlich zurückkommen wollte …?“
„Ich wollte auch, dass wir mehr Essen haben. Und? Ist es da?“
„Julie … Sie … Mama könnte doch auf dem Rückweg sein, oder? Bitte …“
Es überraschte mich, wie hoffnungsvoll Timmy klang. Julie hingegen blickte der Wahrheit ins Gesicht. Ihr Körper mochte jünger sein, ihr Kopf war erwachsener.
Und sie hielt an ihrer eigenen Stärke fest.
„Und seither stehlt ihr euch durchs Leben?“, fragte ich leise, um von ihrer Diskussion abzulenken.
Beleidigt verschränkte Julie die Arme und sackte zusammen.
„Nicht ganz“, seufzend malte Timmy Kreise in die Asche am Boden, „Zuerst haben wir ein paar alte Sachen verkauft. Wir haben behauptet, dass Oma Jane krank ist und Mama sich ganz viel um sie kümmert. So kamen wir über die Runden. Aber wir haben nichts mehr. Und wenn die Leute wüssten, dass wir hier allein sind …“, er verzog das Gesicht.
Julie klammerte sich an seinem Arm fest. Sofort umschloss er sie und presste seine Schwester an sich. Etwas Verzweifeltes lag in der Geste.
Etwas Verängstigtes.
Eigentlich gehörten sie in ein Kinderheim. Aber dort wurden Jungen und Mädchen voneinander getrennt. Man würde sie auseinander zerren, es sei denn, jemand im Dorf würde die Vormundschaft übernehmen.
Nur wer würde die Kinder eines Verräters aufnehmen?
„Und keiner hat sich nach eurer Mama erkundigt?“
Das Kopfschütteln schmerzte mehr als ich zugeben wollte. Vor allem Julies. Sie sah so wie Jane aus. Nur jünger. Jünger und dennoch … genauso einsam?
„Was habt ihr dann gemacht … mit … eurer Oma?“
Schweigend blickte das Mädchen auf. Ihre Augen wirkten so erschöpft, so leer. Wie viel Kraft es wohl kosten mochte, aufzustehen? Und dennoch kämpfte sie sich hoch, um aus dem Fenster zu deuten. Hinaus auf den Hinterhof. Wo eine große Buche stand. Und darunter …
Kam es mir nur so vor oder war dort ein kleiner Hügel auf dem Boden?
Jane …
Ja … Jane ruhte dort …
Gerade als die trübseligen Gedanken auf mich niederprasselten, schlich sich eine Wärme in mein Innerstes. Es war, als würde sich jemand an mir festhalten. Eine Kinderhand, die nach einem Halt suchte. Nach einem Anker oder einem Funken Hoffnung! Es waren viel zu dürre Finger, die sich an, nein, die sich in meinem Dasein festklammerten.
„Bitte … Hilf uns, Timothy“, bat Julie, während ihre Hand meine Seele strich.